Die grösste Hektik verzeichnen die Einträge zwischen 1913 und 1915. In zweieinhalb Jahren zog die Familie von Rebstein nach Heiden, dann nach Donzhausen, nach Tablat, nach St. Gallen und wieder zurück nach Tablat und wieder nach St. Gallen und schliesslich nach Arbon. Zehnmal sind sie in diesen achtzehn Monaten umgezogen – meist mit dem Handwagen, die trippelnden Kinder hinterher –, von der Heiligkreuz- über die Lukas- an die Bruggwaldstrasse, dann weiter in die Langgasse, die Notker-, die Goldbrunnenstrasse. Alles im dicht bewohnten, ärmlichen Arbeiterquartier. An der Bruggwaldstrasse blieben sie nur zwanzig Tage, an der Notkerstrasse immerhin vier Monate, das hatte seinen guten Grund, denn sechs Wochen nach ihrer Ankunft kam eine Niederkunft. Anna Maria gebar am 28. Juni 1914, also kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ihr sechstes Kind. Noch einen Sohn. Sie nannten ihn Hans.
Anna Maria hat mit ihrer Kinderschar wenige Möglichkeiten, zum Familieneinkommen beizutragen. Sie versucht es mit Nachsticken, wie sie in der Einvernahme im Verschuldungsprozess hervorhebt. Doch viel war damit nicht zu holen. Die Stickerei war generell schlecht entlohnt, bei den Frauen erst recht, sie verdienten bis zu siebzig Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Und bei der Heimarbeit war die Bilanz noch miserabler. Später dann versuchte sie es mit Nähen. Am 18. November 1913 kaufte sie eine Nähmaschine auf Abzahlung und unter registriertem Eigentumsvorbehalt . Dieser Schritt ist so präzise zu datieren, weil die geleaste Maschine später in einem Gerichtsverfahren als corpus delicti eine Rolle spielen wird. Vorerst aber kann Anna Maria mit ihrer «Singer» einen neuen Erwerbszweig versuchen. Sie näht in ihrem engen Zuhause in Heimarbeit, inmitten der quengelnden Kinder, zwischen Waschen und Kochen und Trösten und Schimpfen, vermutlich mehr abends und nachts als am Tag und gewiss bei schlechtem Licht. Vielleicht hat sie Herrenhemden genäht. Da verdient sie pro gefertigtes Stück um die zwanzig Rappen. Damit kann sie gerade mal einen knappen Liter Milch oder ein halbes Kilo Brot kaufen.
So kann die Not auch nicht gestoppt werden. Zumal alles teurer wird und die Geschäfte mit den Stickereien immer schlechter laufen. In Sarajevo führt die Ermordung eines Thronfolgers erst zu einer nationalen Krise, dann zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Folge ist es mit dem grossen Erfolg der Stickerei endgültig vorbei. Der Export stagniert, die Produktion schrumpft, es gibt massenhaft Entlassungen. Gleichzeitig lassen die Kriegsjahre die Lebensmittelpreise auf das Doppelte ansteigen. Und zu allem Unglück werden auch noch die Männer in die Armee abgezogen, bei einem Sold, der für drei Gläser Bier und ein Päckchen Zigaretten reicht.
Auf den 3. August 1914 beschliesst der Bundesrat die allgemeine Mobilmachung. Auch Adolf, der wandernde Schifflisticker, wird einberufen. Nach Zürich. Er selbst ist vielleicht sogar froh, das häusliche Elend mit seinem Geschrei und Gestank und den immer genässten Betten einzutauschen mit dem rauen, aber strukturierten Soldatenalltag. Die achtzig Rappen Sold reichen zwar nicht weit, doch für die Familie gibt es zusätzlich etwas Nothilfe, und er hat immerhin zwei warme Mahlzeiten am Tag und ist befreit von der immer aussichtsloseren Arbeitssuche. Der Militärdienst ist für Männer wie Adolf eine fast schon attraktive Alternative. So ist denn auch nicht erstaunlich, dass er sich nach Dienstende sogleich für den Landsturm meldet. Freiwillig. Was es dafür braucht, kann der 41-Jährige in seiner strammen Uniform problemlos bieten, Schiesserfahrung hat er genug, und körperlich leistungsfähig ist er allemal. Das reicht, um für ein paar weitere Monate im nährenden Armeekorps mitzumarschieren.
In dieser Zeit ist Anna Maria mit ihren Kindern fast ganz auf sich gestellt. Sie bekommt etwas Notunterstützung, ihr Nähen und Sticken bringt ein paar zusätzliche Rappen. Der Hunger ist gross, die Kinder zu klein, um mitzuverdienen. Da besinnt sich die nun Dreissigjährige auf eine letzte Möglichkeit, um doch noch zu einem Zustupf zu kommen. Eine Notlösung unter Frauen, bei Müttern nicht unbeliebt, da sie wenig flexibel sind in der Arbeitssuche. Sie entscheidet sich für die gelegentliche → Prostitution. Wie so viele andere Textilarbeiterinnen auch in jener Zeit.
Wie sie ihre Freier findet, wohin oder bei wem sie ihre Kinder versorgt während ihrer Dienste und wie sie sich fühlt, wenn sie Kundschaft in ihrer Wohnung empfängt, sind offene Fragen, dem Luxus späterer Zeiten entsprungen. Sie verdient damit Geld, das ist es, was zählt. Zwei Franken. Zwei Franken fünfzig. Je nach Grossmut des Kunden. Dafür müsste sie zehn Herrenhemden nähen oder in der Fabrik Nadeln fädeln oder nachsticken, elf ganze Stunden lang. Und mit dem Geld auch nur eines einzigen Kunden lässt sich eine Menge Ware kaufen, sechs runde Kilolaibe Brot, zehn Liter Milch, vielleicht auch mal etwas Rindfleisch und ein Stückchen Schokolade.
Wie oft es mit ihrem Zusatzverdienst als Prostituierte geklappt hat, bevor Anna Maria deswegen im Juli 1915 verhaftet wird und als Angeklagte betreffend gewerbsmässiger Unzucht vor der Gerichtskommission Tablat steht, ist nirgends protokolliert. Die Gerichtsakte verrät einzig, wie es zur Anzeige kam: Die Angeklagte hatte schon längere Zeit in Verdacht gestanden, dass sie sich gewerbsmässig der Unzucht hingebe. Als dann nach einer Mitteilung des Territorialchefarztes sich ein Soldat in einem näher bezeichneten Hause an der Goldbrunnenstrasse an Gonorrhoe (Syphilis) infiziert hatte, fiel der Verdacht wiederum auf die heutige Angeklagte, die dort ihre Wohnung hat. Anna Maria versucht während der Untersuchung zuerst, den Tatbestand zu leugnen, gibt dann aber in einem späteren Verhör zu, vor ca. 4 Monaten mit einer ihr unbekannten Mannsperson in ihrer jetzigen Wohnung Umgang gehabt und dafür 2 Frs. erhalten zu haben. Noch in zwei weiteren Fällen gesteht sie das eingeklagte Delikt widerstandslos ein. Sie steht alleine vor den Richtern Müller, Steger, Sennhauser und dem Gerichtsschreiber Dr. Schubiger, eine Angeklagte ohne Anwalt, dafür hat sie kein Geld. Und was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hat, ist schnell gesagt: Zu ihrer Rechtfertigung macht die Angeklagte geltend, dass sie in Not gewesen sei und sich in der eingeklagten Weise vergangen habe, um das nötige Geld zur Ernährung ihrer sechs kleinen Kinder aufzutreiben. Damit kommt sie bei den Herren Richtern allerdings nicht durch. Demgegenüber ist festgestellt, dass sie während der Abwesenheit ihres Ehemannes im Militärdienst Notunterstützung bezogen hat. Aufschlussreich ist, dass im Gerichtssaal keine konkreten Zahlen genannt, keine Berechnungen zu den Lebenshaltungskosten einer siebenköpfigen Familie gemacht werden. Man fragt auch nicht nach den Mietkosten und noch weniger nach den Beiträgen des Ehemannes in die Familienkasse. Es sind männliche Richterhände, die hier die Waage der Gerechtigkeit austarieren, und patriarchale Gesetze, die hier gebieten. Sie lassen den Männern mehr Freiheit und den Frauen mehr Schuld. Anna Maria wird nach vier Tagen Untersuchungshaft ohne Wenn und Aber verurteilt. Die Angeklagte ist der gewerbsmässigen Unzucht schuldig erklärt und zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt.
Das Urteil ist bitter. Erstmals in ihrem Leben verliert Anna Maria ihr Grundrecht der persönlichen Freiheit. Sie wird zur Übernahme von für sie unbezahlbaren Summen von Gerichtsgebühren und Untersuchungskosten verdonnert, zusätzlich zu den 34.20 Franken Verpflegungskosten für sie selbst während ihrer Haft. So kostspielig hat sie zu Hause wohl nie gewohnt und gegessen. Der eine Freier aber, der erkrankte Soldat, der sie vor den Richter brachte, dessen Identität also mit Sicherheit bekannt war und der sich gemäss Gesetz wegen ausserehelichem Sex ebenfalls strafbar machte, wurde gerichtlich nicht einmal vorgeladen.
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