Diese zweite Verurteilung im Leben der Anna Maria Boxler unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der vorherigen, jener zur versuchten Abtreibung vier Jahre zuvor. Diesmal kann sich Anna Maria nicht mehr auf ihr ordentliches Bemühen um Wohlanständigkeit berufen, es gibt kein paternalistisches Wohlwollen mehr, das strafmildernd wirkt. Diesmal läuft es umgekehrt. Straferschwerend wirkt dabei der Umstand, dass sie verheiratet ist und damit durch ihre Verfehlung das ohnehin nicht glückliche Familienleben noch mehr getrübt hat. Offenbar hat Anna Maria mit ihrem Schritt zur Gelegenheitsprostitution eine unsichtbare Schranke überschritten. Sie hat die bürgerlichen Werte von Anstand und Treue aufgekündigt und damit nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihren guten Ruf aufs Spiel gesetzt. Beides sind folgenschwere Verluste, wie sie bald einmal merken wird.
Nun beginnen die Behörden sich für die Kinder der Anna Maria zu interessieren, genauer für deren richtige Erziehung. Was das für sie und die Familie zu bedeuten hatte, wird in den nächsten Kapiteln genauer zu zeigen sein. Hier sei vorerst festgehalten, dass sich der Ton verändert, wenn künftig die Behörden über das Geschick von Anna Maria verhandeln, dass der Zeigefinger mitredet und sich Moral einschreibt in die Sätze der amtlichen Protokolle. Man liest nun in den Gemeindeakten plötzlich von Anna Marias bekanntem rechthaberischen Tone, und bei der Auflistung eingegangener Rechnungen hält man in Nesslau unmissverständlich fest, wie sehr doch diese Familie die Armenkasse belaste, und zwar zufolge des Lasterlebens der Eltern. Die Fokussierung auf die individuelle Schuld lässt keine mildernden Bezüge mehr als Erklärung zu, weder auf die Wirtschaftskrise noch auf die wachsende Kinderschar und auch nicht auf den Krieg und seine Folgen. Diese Verschiebung in der Beurteilung der Schuldfrage ist von grundlegender Bedeutung. Denn so können die Behörden neue Massnahmen einleiten im Kampf gegen die Mittelosigkeit von Familien wie den Loosers, die in gefrässiger Armut kommunale Gelder verschlingen.
Auch Adolf hat seinen guten Ruf bekanntlich längst verwirkt. Obwohl, so entdeckt der forschende Enkel eines Tages beim Entziffern eines Nesslauer Protokolleintrags, da sind offenbar nicht alle behördlichen Instanzen gleicher Meinung. Sitzung vom 30. September 1913: Nachdem wir unterm 10. September an das Departement des Innern eine Vernehmlassung in Sachen Adolf Looser-Boxler Schifflisticker Heiligkreuz abgehen liessen, gelangt das Departement neuerdings in dieser Frage an die Gemeinde. – Looser scheint ein soliderer, pflichtbewussterer Mann als von uns geschildert, zu sein, er dokumentiert dies durch eingelegte Zeugnisse. Als der Nachfahre diese Passage liest, leicht unterkühlt von der Kellerkälte des Nesslauer Archivs, durchfährt ihn ein Funken wärmender Freude. Es hat etwas Tröstliches zu erfahren, dass der Mann, der sein Grossvater war, doch nicht ganz so durchgängig als Versager gezeichnet wurde, wie zu befürchten gewesen war. Offenbar gab es auch Menschen um ihn, die ihm Redlichkeit und Fleiss attestierten. Auch wenn diese die heimatlichen Behörden mit ihrer Meinung nicht zu überzeugen vermochten. Der Gemeinderat beschliesst auf seinem Standpunkt zu beharren, indem die Zeugnisse nicht vermögen anders zu belehren.
Der Ton in den Nesslauer Protokollen hat sich definitiv verhärtet. Der Enkel findet nun vermehrt knappe Rapporte, die die Elendsgeschichten in blutleere Fakten abpacken. Familie Looser-Boxler Adolf, Sticker, Goldbrunnenstr. 45 St. Fiden. Die Verhältnisse scheinen bei dieser Familie immer misslicher zu werden. Der Mann ist neuerdings wegen Geschlechtskrankheit im Spital. Die Frau mit den Kindern wird auf die Gasse gestellt. Bei einem Besuch des Gemeindeammanns zeigte sich, dass die Familie auszog und zwar in den Stadtrayon. Vom Armensecretariat Tablat wurde die Familie vorläufig unterstützt. Seitens der Heimatgemeinde wird man nun zusehen bis weitere Begehren eingehen. Die Begehren lassen nicht auf sich warten. Die Forderung des Vermieters Schweikart aus St. Gallen für den garantierten Mietzins von 35 Franken. Die Rechnung des Kantonsspitals im Krankheitsfall Looser, dessen Syphilis man vergeblich als Militärkrankheitsfall der Armee zu überwälzen versucht. Bemerkenswert bleibt, dass keine Arzt- oder Spitalrechnung vorliegt, die eine Behandlung der ebenfalls daran erkrankten Anna Maria nachweisen würde. Wahrscheinlich hat sich vorerst niemand darum gekümmert. Auch sie selbst nicht.
Dafür kümmert man sich von Behördenseite umso mehr um die Kinder. Die Amtsvormundschaft der Stadt St. Gallen empfiehlt den Nesslauern die sofortige Wegnahme der Kinder + passende Unterbringung derselben, stösst dort aber auf taube Ohren. Die Nesslauer hoffen auf eine billigere Lösung: Der Gemeinderat rapportiert über einen gemachten Besuch, demzufolge ist Looser nunmehr aus dem Spital ausgetreten u. hat wieder beständige Arbeit gefunden als Schifflisticker in Walzenhausen, wohin die Familie nun zu ziehen gedenkt. Zu hoffen ist, dass nachdem der Mannsverdienst wieder einsetzt die Gemeinde, wenn nicht ganz so doch bedeutend entlastet werde. Aber auch mit Walzenhausen scheint es nicht wirklich zu klappen. Ende 1915 zieht die Familie nach Arbon. Und die Nesslauer versuchen den Umzug zu nutzen, um sich aus ihrer finanziellen Belastung zu befreien. Sitzung vom 27. Januar 1916: In etwas unverständlicher Weise berichtet die Armenpflege Arbon über die Familie Adolf Looser-Boxler Schifflisticker. Die Behörde verlangt schriftliche Gutsprache für sämtliche durch die Krankheit der Eltern oder Kinder möglicherweise entstehenden Arzt-, Verpflegungs- und Transportkosten. Der Armenpflege ist mitzuteilen, dass es dem Ehepaar Looser-Boxler wohl möglich sei die Familie selbst durchzubringen zu können und eine Garantie nicht geleistet werden könne. Der Eintrag schliesst mit einem bemerkenswerten Schlusssatz: Unsere Auffassung war nun die, die wohnörtliche Behörde wolle ein Augenmerk auf das Ehepaar halten in sittlicher Beziehung. Eine Dosis Moral also statt der nötigen Unterstützungsgelder. Und diesmal sollen die Arboner bei den Loosers die Zügel straffen, um den weiteren Absturz ins Elend zu stoppen.
5 Weggesperrt und abgeschoben
Die Armenpflege Arbon findet keine Zeit, sich um die zugezogene Familie Looser zu kümmern. Kaum angekommen, zieht diese bereits wieder weg, zurück nach Straubenzell bei St. Gallen, wo sie schon einmal wohnte. Im Juli 1916 stellt man von dort einen Antrag auf Auflösung der Familie, wie aus den Nesslauer Protokollen zu erfahren ist. Die Verhältnisse in Sachen Familie Looser-Boxler scheinen immer bedenklicher zu werden. Das Waisenamt Straubenzell verfügt Auflösung der Familie indem die Kinder wegen der Unsittlichkeit der Mutter gefährdet seien. 2 Kinder versorgt bei der Grossmutter Frau Bauer seien zu Handen zu nehmen, die Mutter Frau Looser-Boxler sei polizeilich einzuliefern. Gdrat. Bösch B. wird beauftragt die Sache zu prüfen u. an nächster Sitzung darüber zu rapportieren. Zwei Wochen später berichtet Gemeinderat Bösch, dass er die Familie gar nicht mehr gefunden habe, dass die Frau bereits nach Zürich ausgezogen sei. Offenbar ist Anna Maria mit einem Teil der Kinder ihrem Mann nachgereist, der in der Industriestadt Zürich Arbeit und an der Rössligasse eine neue Bleibe gefunden hat. Adolf Looser scheint von der drohenden Auflösung der Familie zu wissen und versucht die weitere Fremdplatzierung seiner Kinder zu verhindern. Nun stellt Looser wie früher schon wiederholt das Gesuch es müsste die Heimatgemeinde verfügen, dass die Familie beieinander bleiben könne. Die Nesslauer geben der Familie aus Kostengründen eine weitere Chance. Noch einmal wird dem Gesuch des Vater Looser entsprochen, wobei eben die Kostenfrage der Kinderversorgung das Schwergewicht bildet, notieren sie und verbinden die Zusage mit einer verstärkten Kontrolle durch die Armenbehörde.
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