Abbildung 1.3 Szenario zu Verantwortlichkeiten für die Zukunft der Arbeit [18]
Der Arbeitsmarkt von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland könnte sich in Zukunft in drei Segmente teilen. Das oberste Segment bilden die gut ausgebildeten Arbeitskräfte, die bei der Mensch-Maschinen-Symbiose einen Mehrwert erbringen. Die Verantwortung der Rekrutierung und Förderung dieser Mitarbeitenden sollte bei der Wirtschaft liegen. Das dritte Segment umfasst alle jene Berufe, die auf einer engen Beziehung zwischen Menschen aufbauen, wie die Gesundheitspflege, die Altersbetreuung oder der Schulunterricht. Hier sollte die Verantwortung in Zukunft vermehrt bei der Zivilgesellschaft mit ihrem Milizsystem liegen. Das zweite Segment beinhaltet die potenziell gefährdete Arbeit. Hier sollte der Staat subsidiär zum Zuge kommen, dies durch Aus- und Weiterbildungsangebote zur Erreichung des ersten Segments, durch die Entwicklung neuer Berufsbilder für das dritte Segment sowie beim Reißen aller Stricke durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Reflektierende Unternehmenspraxis
Ein grundlegendes Verständnis für den Umgang mit diesen Megatrends ist Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Führung in Zeiten des digitalen Wandels. Unser Buch will dazu die Voraussetzung schaffen und fokussiert dabei auf die Frage: Welche Denkmuster und Werkzeuge sind geeignet, um diese und ähnliche Spannungsfelder bestmöglich zu bewältigen, und wie gehen Führungskräfte bei deren Umsetzung in der Unternehmenspraxis vor? Welche inhaltlichen Strategien und Taktiken sie entwickeln, und wie dabei ihre soziale Führungskompetenz zum Tragen kommt, wird anhand von Praxisbeispielen ergänzend illustriert. Führungskräfte sollen aber mit erster Priorität ein Instrumentarium kennenlernen, das sie auf den Umgang mit komplexen Zusammenhängen vorbereitet.
Unser Buch fokussiert auf Denkmuster und Werkzeuge beim Umgang mit den Spannungsfeldern des Wandels.
Weshalb wird dieser Umgang mit den genannten Megatrends nicht öfter thematisiert? Es fehlt schlicht ein ganzheitliches Verständnis für diese Entwicklungen. Der Grund dafür ist die meist von Expertinnen und Experten geführte, stark spezialisierte Diskussion. Diese haben meist eine eingeengte Sichtweise auf das technologisch Machbare und die sich abzeichnenden Wettbewerbsvorteile. Als Spezialisten und Berater müssen sie aber kaum Verantwortung für die Wirkung ihres Denkens und Handelns in Gesellschaft, Wirtschaft [19] und Unternehmen übernehmen. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist auch deren Einstellung zum Thema der Führung, wie Mitroff (2018, Pos. 259) treffend bemerkt: «Es ist eine selbstgefällige Annahme, dass – im Vergleich zur Technologie – Management einfach, wenn nicht gar trivial sei.»
Führungskräfte sind nicht einfach für die Umsetzung technologischer Neuerungen zuständig, sondern sie müssen ihre Mitarbeitenden für diesen Wandel begeistern, dessen Auswirkungen für die gesunde Entwicklung des Unternehmens richtig einschätzen und den Wandel selbst weiterentwickeln und beschleunigen. Damit leisten sie auch einen Beitrag zum Gemeinwohl, den die Zivilgesellschaft heute von Führungskräften zu Recht erwartet.
Ein umfassendes Führungsverständnis setzt ein stetes Überdenken der eigenen Aufgabe im größeren Kontext des Wandels von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen voraus – überzeugende Führungskräfte beweisen sich in diesem Umfeld als reflektierende Praktiker. Aber erfordert der tiefgreifende Wandel tatsächlich ein grundlegend neues Führungsverständnis, wie dies heute vielerorts gefordert wird? Oder kommen jetzt erst recht die Grundsätze guter Führung zum Tragen, wie sie über die letzten Jahrzehnte entwickelt und in der Praxis erfolgreich umgesetzt worden sind? Auf diese Frage wird im 6. Kapitel
näher einzugehen sein.
Der Begriff des reflektierenden Praktikers wurde zu Beginn der 1980er-Jahre von Donald SCHON (1984) geprägt. Als stehender Ausdruck bezeichnet er Frauen und Männer, die Führungsverantwortung übernehmen. Um dies noch zu unterstreichen, verwenden wir in diesem Buch stets die Mehrzahl: «reflektierende Praktiker». Im Gegensatz zu Expertinnen und Experten sind reflektierende Praktiker in das Unternehmen integriert, sie tragen Verantwortung für ihr Denken und Handeln, sie beeinflussen den Lauf der Dinge. Sie verfügen über großes implizites Wissen – meist Erfahrung genannt –, das sie mit neuen Inhalten kombinieren müssen.
Reflektierende Praktiker machen sich intensiv Gedanken zu den grundlegenden Zusammenhängen ihrer Führungssituation. Für den digitalen Wandel heißt dies beispielhaft, dass sich technologische Entwicklungen zwar zu einem gewissen Grad prognostizieren lassen (siehe «Moore’s Law», MOORE, 1965), die möglichen Anwendungen jedoch voller Überraschungen sind, oder anders ausgedrückt: Hier liegen die Wettbewerbsvorteile innovativer Unternehmen. Reflektierende Praktiker lassen sich nicht von den Versprechungen der technologischen Entwicklung blenden, sondern haben stets das eigene Unternehmen im Blick. Sie wissen, dass sich Anwendungen nicht prognostizieren lassen, sondern dass sie selber die Zukunft gestalten müssen. Und sie sind sich bewusst, dass sie mit ihren Eingriffen in das Unternehmen dieses nicht nur verändern, sondern dass es darauf reagiert, und zwar auf oft unvorhersehbare Weise. Das bedeutet, dass sie ihr «internes Modell» laufend anpassen, d. h., über ihre Reflexion reflektieren. Ganz entscheidend ist schließlich die Fähigkeit, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen des digitalen Wandels und deren Auswirkungen auf das Unternehmen zu verstehen. [20]
Reflektierende Praktiker – Frauen und Männer, die ihre Führungsaufgabe ganzheitlich wahrnehmen – haben eine umfassendere Sicht als Experten, sie sind für ihr Unternehmen und ihre Mitarbeitenden verantwortlich.
Reflektierende Praktiker stellen sich somit – im Gegensatz zu Experten – zum digitalen Wandel die folgenden Fragen:
— Experten: Welche neue Technologie könnte für das Unternehmen vorteilhaft sein?
Praktiker: Welche Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich aus der neuen Technologie für mein Unternehmen? Welche bisher nicht existierenden Märkte entstehen neu?
— Experten: Wie kann die neue Technologie bestmöglich im Unternehmen eingesetzt werden?
Praktiker: Wie reagiert mein Unternehmen auf den durch die neue Technologie notwendigen Umbau?
— Experten: Welchen wirtschaftlichen Erfolg erzielt das Unternehmen durch die Anwendung der neuen Technologie?
Praktiker: Welche Vorteile ergeben sich zusätzlich für meine Mitarbeitenden und für das Gemeinwohl?
In ähnlicher Weise argumentiert Nicholas TALEB (2018) mit dem Begriff des «Skin in the Game», dass die eigene Haut auf dem Spiel stehen muss. Reflektierende Praktiker verfügen über Führungswissen und -erfahrung sowie ein passendes Instrumentarium für wirkungsvolles Handeln. Vor allem aber verfügen sie über einen kreativen Zugang zu neuartigen Problemsituationen.
Reflektierende Praktiker müssen ganz spezifische Denkmuster entwickeln, um der Komplexität des digitalen Wandels gewachsen zu sein. Im Folgenden werden fünf solche Denkmuster vorgestellt und in ihrer praktischen Anwendung illustriert.
Denkmuster für die verantwortungsvolle Führung des Wandels
Neuartige Problemsituationen, wie sie sich beim digitalen Wandel zunehmend stellen, erfordern einen kreativen Zugang beim Erkennen der großen Zusammenhänge und bei der Bewältigung der anstehenden Komplexität. Wegleitend ist dabei die Einsicht, dass [21] es keine unternehmerische Freiheit ohne gesellschaftliche Verantwortung geben kann und dass das Wohlergehen der Menschen stets im Mittelpunkt des Denkens und Handelns der reflektierenden Praktiker stehen muss.
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