Das ging nicht immer gut, vor allem, wenn wir zu Arbeiten und später ganz auseinandergesetzt wurden. Wir lebten diese gemeinsame Schulzeit mit so viel Freude in vollen Zügen.
Meine »Schwester« Erika und ich
Gemeinsam begeistert waren wir von der Tanzschule. Ich sehe uns noch: Alle Mädchen saßen in einer Reihe. Uns gegenüber die Jungens. Dann hieß es: »Bitte auffordern!«
Die Jungens standen auf, verbeugten sich vor jeweils einem Mädchen und der Tanz begann. Ich zitterte jedes Mal, dass auch ich aufgefordert werde. Es waren zu viele Mädels, zu wenig Jungens. Ich hatte immer Glück, blieb nicht sitzen. Musste nicht mit einem Mädchen vorliebnehmen.
Zum Tanzstundenball wurden Erika und ich von unseren »Herren« von zu Hause abgeholt, ich bekam ein Veilchensträußchen. Erika und ich trugen wie so häufig das Gleiche. Ein herrliches, weißes Tüllkleid, mit Schärpe. Ich habe die schönsten Erinnerungen daran. Auch an diesen ersten Ball, bei dem natürlich auch die Mutti und Erikas Opa dabei waren.
Gemeinsam gingen wir auch zum »Rollschuh-Tanz«, das war eine Arbeitsgemeinschaft, die die Rollschuhe, die wir zum Üben brauchten, zur Verfügung stellte. Ich glaube, dort waren wir nicht sehr lange, denn ich erinnere mich mehr daran, dass wir im Tanzkursus für Fortgeschrittene landeten und bei gelegentlichen Auftritten auch den »Lipsi« vorführten.
Unser Tanzstunden-Abschlussball, Erika (2. v. r.) und ich (3. v. r.) mit unseren »Herren«
Elke war bereits seit zwei Jahren in Berlin und studierte Opernregie. Nach Beendigung der 10. Klasse ging Erika nach Meißen zum Ingenieurstudium. Der Zufall wollte es, dass auch Erika nach dem Studium in Berlin Arbeit fand. Sie heiratete, bekam zwei Söhne und natürlich hielten wir weiter den Kontakt. Sie konnte sich allerdings nie mit meiner Art zu leben anfreunden. Selbständig und in Unsicherheit, das war nichts für sie. Aber unsere Vertrautheit blieb immer bestehen. Erika hatte schon als Kind Schilddrüsenkrebs. Der kam leider zurück. Kurz vor ihrem Tod besuchte sie mich und brachte mir ein Kleid wieder, das sie für mich geändert hatte. Es war mir zu groß gewesen, sie hatte es passend gemacht. Darin hatte sie echt was drauf.
Ich hatte ihr im Gegenzug einige Bücher mitgegeben. Lieblingsbücher, die ich immer anderen aufdrängle. Jenes Kleid ist mir schon lange zu eng geworden. Aber ich hebe es auf. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, es wegzugeben.
Anders als Erika und Elke blieb ich weiter in Schwerin und spielte nach wie vor im Arbeitertheater »Kolonne Links«. Unser Repertoire war weitgefächert. Wir brachten Stücke von Bertolt Brecht bis Hans Sachs zur Aufführung. Hans Sachs’ Schwänke und Jahrmarktstücke spielten wir auf einem alten Planwagen. Aber wir inszenierten auch Anne Frank.
Unser Planwagen von »Kolonne Links«, ich als Kammerzofe (l. u.)
Pause am Fenster
Wir waren eine verschworene Truppe und ich erinnere mich, dass wir im Sommer 1961 zu sechst gemeinsam Urlaub an der Ostsee machten. Wir fuhren nach Bad Doberan, wo wir, wie ich es einst im Kinderheim erlebt hatte, auf einem herrlichen Heuboden nächtigten. Ich zählte jeden Morgen die Spinnen an der Decke. Stimmte ihre Anzahl, war alles okay. Wenn nicht, hätte ich wirklich das gesamte Heu nach ihnen abgesucht? Ich hatte Glück, meine Spinnen waren brav.
Mitten in unserem Urlaub erreichte uns am 13. August die Nachricht, dass in Berlin eine Mauer gebaut worden war. Wir sollten umgehend nach Schwerin zurückkehren. Das machten wir, und am nächsten Tag gingen wir mit einem Agitprop-Programm auf die Straße. Wir sangen: »Willy Brandt, wohlbekannt, wurde weiß, wie ’ne Wand. Sagte Schockschwerenot, Klappe zu, Affe tot. Da sprach der alte Häuptling der Indianer, wild ist der Westen, schwer ist der Beruf.«
Berlin war so weit weg – was da so richtig passiert war, wir hatten keine Ahnung davon.
Über das Arbeitertheater hatte ich mich an der Leipziger Theaterhochschule beworben. Dort war allerdings gerade Aufnahmestopp, ich wurde auf das nächste Studienjahr vertröstet.
Also blieb ich in Schwerin und absolvierte mein »praktisches Jahr« im VEB »Vorwärts«, einer großen Autoreparaturwerkstatt. Ich hatte keine Ahnung von Autos, aber neugierig und wissbegierig, wie ich nun mal bin, schnappte ich schnell einiges auf und konnte den Kunden bei der Annahme behilflich sein. Na ja, wie man’s so nimmt …
Nachdem ich einmal gehört hatte, wie ein Kollege zu einem Kunden sagte: »Das wird das Chassis sein«, übernahm ich diese Redewendung prompt. Chassis – dieses Wort gefiel mir außerordentlich. Wenn nun ein Kunde kam und meinte: »Da klappert was«, nickte ich nur wissend und sagte: »Das wird das Chassis sein, kommen Sie mit, ich bringe Sie zum Meister.« Ich fand mich toll.
Mutti hatte eine Anstellung in Kleinmachnow bei Berlin angenommen. Da ich noch in Schwerin blieb, hatte Mutti mit der Glaserfamilie Bolze alles abgesprochen. Sie wurden quasi meine Pflegeeltern. Ich war siebzehn, also sollte es schon noch jemanden geben, der »erziehungsberechtigt« war.
Ich bewohnte eine Kammer oben in unserem Haus. Das Bad befand sich wie zuvor in der Wohnung der Familie Bolze. Kost und Logis hatte ich ebenfalls bei ihnen. Ich fühlte mich wohl. An Mutti wurde ich bei einem Mittagessen erinnert. Es gab Königsberger Klopse. Da stand eine große Terrine auf dem Tisch und ich bekam eine Kelle mit Klopsen auf den Teller geschüttet: Fünf Klopse, fast kein Platz mehr für eine Kartoffel. Ach Mutti, danke für die zwei Klopse, während du verzichtet hast …
In meiner Dachkammer hatte ich Mitbewohner. Es waren Mäuse, und ich sprach zu ihnen: »Ihr könnt hier machen, was ihr wollt, aber nicht in mein Bett kommen!«
Sie wohnten hinter der Tapete, waren auf dem Schrank oder im Papierkorb, den ich morgens in den Flur stellte. So war mindestens eine Familie Maus weniger in der Kammer. Sie knabberten alle Papiere an. Wenn ich meine Kemenate betrat, klatschte ich zuerst in die Hände. Keine Maus war zu sehen. Den Rat, eine Falle zu kaufen und aufzustellen, befolgte ich nicht. Ich hätte die ganze Nacht auf das Klacken und Quietschen gewartet. Nein, ich freundete mich lieber mit ihnen an. Wenn die langen, nackigen Schwänze nicht wären, könnte ich diese possierlichen Tierchen echt liebhaben.
Ich weiß noch, dass ich in »meiner« Werkstatt viel Zeit auf der Toilette verbrachte – um zu schlafen. Am Abend hatten wir im Arbeitertheater Probe, nachts bauten wir Kulissen, so kam es eben manchmal zu zehnminütigen Toilettenbesuchen.
Nachdem mein Praktikum im VEB »Vorwärts« beendet war, brach ich meine Zelte in Schwerin ab und zog zu meiner Mutti nach Kleinmachnow bei Berlin.
Wieder ein Abschied, jetzt von meinen Freunden aus dem Arbeitertheater, der mir sehr schwerfiel. In Berlin wollte ich mich an der Hochschule für Schauspielkunst bewerben.
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