Ein anderes Mädchen beschäftigte mich am 17. Juni des Jahres 1953. Ihre Mutti arbeitete in Magdeburg als Polizistin. Das Mädchen weinte, und uns wurde gesagt: »Seid bitte lieb zu ihr, denn sie hat Angst um ihre Mutter.« In Magdeburg sei ganz viel los, hieß es. Ihre Mutti sei in Gefahr, sogar Schüsse sollen gefallen sein.
Am Abend erfuhren wir, dass es ihrer Mutti gutgehe. Das war schön, wir freuten uns. Und eigentlich war das ja ein schöner Tag, wir hatten nämlich schulfrei. Seine wirkliche Bedeutung als Volksaufstand wurde mir, wie so vieles im Leben, erst sehr viel später klar.
Sehr schöne Erinnerungen habe ich an die Saline, das Gradierwerk. Dorthinauf durften wir natürlich nur in Begleitung Erwachsener. Auf dem Gradierwerk stehen und überall von der riesigen Wand glitzernde salzige Tropfen auffangen, einfach wunderbar!
Elke und ich auf dem Gradierwerkturm, Salzelmen, Anfang der 1950er Jahre
Wir fuhren mit dem Kinderheim auch ins Ferienlager. Das heißt, wir fuhren in ein anderes großes Kinderheim in der Nähe und dessen Kinder wohnten in der Zeit in unserem Heim. Ein toller Tausch. Das war herrlich, denn wir schliefen auf einem Heuboden – Abenteuer pur! Dieses Vergnügen genoss ich später noch einmal, von Schwerin aus zusammen mit Freunden aus dem Arbeitertheater.
1955 hatte meine Mutti ihr Studium beendet und eine Anstellung in Schwerin gefunden. Dort war alles fremd, sie musste sich ja erst noch eine neue Existenz aufbauen, eine Wohnung einrichten und dergleichen mehr. Deshalb sollte zuerst nur ich nach Hause kommen, während Elke noch ein Schuljahr länger im Heim blieb.
Das bedeutete für mich: tränenreicher Abschied von meiner Schwester und den Freundinnen im Kinderheim. Eine Erzieherin setzte mich mit Sack und Pack in Magdeburg in den Zug. In meinem Brustbeutel befanden sich meine Papiere und die Fahrkarte. Ich war jetzt elf Jahre alt und freute mich auf die Mutti, die mich in Schwerin am Zug erwartete. Ganz allein saß ich im Abteil, bis die Schaffnerin kam. Sie sah sich meine Fahrkarte an und fragte nach irgendwas, was ich nicht verstand.
»Ja, hast du das etwa nicht?«, hakte sie nach.
Ich konnte darauf nur mit den Schultern zucken und sagte ängstlich: »Das ist alles, was ich bekommen habe.«
Die Schaffnerin schüttelte den Kopf. »Also, so geht das nicht, da muss ich mich erst mal erkundigen gehen.«
Ab dem Moment saß ich, sicherlich fälschlicherweise in der 1. Klasse, völlig verängstigt in dem Abteil. Bei jedem Halt dachte ich: Gleich kommen sie und schmeißen mich aus dem Zug.
Die Schaffnerin sah ich nicht wieder, aber endlich die Mutti auf dem Bahnhof in Schwerin, der ich weinend von meiner Angst erzählte. Aber nun war ja alles gut …
Arbeitertheater und meine zweite Schwester
Unsere Schweriner Wohnung erstreckte sich wieder mal über zwei Stockwerke. Im ersten Stock befand sich das Wohnzimmer, im zweiten das Schlafzimmer von Elke und mir. In einem klitzekleinen Raum daneben schlief Mutti. Oben wohnte auf demselben Flur noch eine Familie, durch deren Küche wir gingen, um in unsere Küche zu gelangen. Zwischen beiden Küchen befand sich das Bad, das beide Familien nutzten.
Glasermeister Bolze und seiner Familie gehörte nicht nur die Glaserei im Haus, sondern auch die Wohnung, in der sie das Bad mit uns teilen mussten. Wir kamen uns nie in die Quere. Vielleicht verließen wir morgens früher das Haus und gingen am Abend eher schlafen? Es war ein gutes Nebeneinander. Bolzes hatten drei Kinder, mit ihrem Sohn Helmut freundeten wir uns an. Wunderbar war, dass diese Familie in späteren Jahren einen Fernseher besaß. Wir Kinder durften dann öfter mal in ihr Wohnzimmer zum Fernsehen.
Unsere Wohnung lag in der Salzstraße, die zum Theater führte. Wie oft hingen Elke und ich am Fenster und bewunderten die festlich gekleideten Theatergänger! Manchmal hatten wir das Fenster weit geöffnet, und wenn die eleganten Besucher die Straße entlangkamen, begannen wir laut im Kauderwelsch zu reden: »Etabachterumsdadrumsda …« Wir sprachen ausländisch. Die sollten gucken, wir waren etwas ganz Besonderes!
Unser Vormieter hatte ein Klavier in der Wohnung stehen lassen. Das gefiel mir: Mutti am Klavier, wenn wir feierlich zweistimmig Weihnachtslieder sangen. Das Klavier war nun mal da, also lag es auf der Hand, dass Elke und ich Klavierunterricht bekamen. Ich ging auf die Musikschule, da war der Unterricht kostenlos. Elke hatte eine Klavierlehrerin. Meine Schwester spielte längst bekannte Musikstücke, während ich monatelang endlos »Czerny-Fingerübungen« in die Tasten hämmerte. Das reichte mir irgendwann, ich weigerte mich, weiterzumachen. Leider gab die Mutti meinem Wunsch nach. Ich wollte eben richtig Musik machen – und kann genau das bis heute nicht.
In unserem Schlafzimmer hatte ich eine Wäscheleine gespannt, an die ich Fotos von Schlagersängern klammerte. Auch Fotos von Schauspielern hingen dort. Das alles ertrug Elke ja noch. Aber als ich auf unserer »Goebbels Schnauze«, dem einzigen Radio in unserer Wohnung, Sender suchte, die Schlager spielten, gab es mächtigen Krach.
Mutti schritt ein und jede von uns bekam bestimmte Zeiten, in denen sie ihre Musik hören durfte. Elke konnte ihre Opern und Operetten genießen und ich meine Cornelia Froboess und Peter Kraus: »Wenn Teenager träumen« und dergleichen mehr. Schlimm war nur, dass jede von uns beiden die Musik der anderen mithören musste.
Wie das Leben so spielt: Elke wurde Opernregisseurin, ich moderierte die Sendung »Musikalisches Intermezzo« (Operette/Musical) – und konnte dank Elke fast jeden Titel mitsingen. Fantastisch! Meine Liebe zu Schlagern teile ich heute mit meinem Publikum beim Seniorenprogramm.
Ich kam in die 5. Klasse und wurde sehr schnell in den Kreis meiner neuen Mitschüler aufgenommen. Mein großes Problem hieß Mathematik. Unser Mathelehrer Herr Hoffmann war ein Kriegsheimkehrer, der zwar von Hause aus kein Lehrer war, wohl aber ein kluger Mensch. Es mangelte an Lehrern. Mit Herrn Hoffmann machten wir uns gern den Spaß und stellten »Hoffmannstropfen« auf seinen Tisch. Diese kamen vornehmlich bei Übelkeit und Ohnmacht zum Einsatz, und wir waren stolz auf diesen grandiosen Einfall. Herr Hoffmann spielte mit.
Nie vergessen werde ich meine Mathematikprüfung in der 8. Klasse. Herr Hoffmann gab mir einen Zettel, auf dem die Aufgabe stand. An der Tafel sollte ich deren Lösung finden. Die war so leicht, dass ich zunächst dachte, es sei eine Falle. So begann ich, mit Hilfe irgendeiner Formel auf dem umständlichsten Weg mit den Zahlen zu jonglieren. Zum Glück stimmte letzten Endes meine Lösung. Warum einfach, wenn’s auch umständlich geht?
Heute weiß ich, dass mir dieser liebe, kluge Mensch ganz bewusst die leichteste aller möglichen Aufgaben zugedacht hatte. Ich denke, er wird während meiner Rechnerei noch mehr geschwitzt haben als ich. Übrigens stehe ich mit Mathe immer noch auf totalem Kriegsfuß. Ich bin nicht fähig, Mathematik logisch zu erfassen. Inzwischen hat das Ganze sogar einen Namen: Dyskalkulie, zu Deutsch: Rechenschwäche. Offenbar haben sich zwei Synapsen nicht getroffen in meinem Hirn. Und ich bin sicher, das ist erblich. Tut mir leid, meine Lieben.
Ganz anders erging es mir in Religion, was damals noch ein normales Schulfach war. Ich liebte dieses Fach, der schönen Märchen wegen. Ziel jenes Unterrichts war die Konfirmation. Diese zu erreichen, hatten wir im Dom von Schwerin nachmittags zusätzlich Christenlehre. Es gab bunte Bilderchen und einen Stempel, wenn wir erschienen. Wer am Ende zu wenig Stempel vorwies, wurde nicht konfirmiert. Die Sammelbilder waren schön, bei den Stempeln schummelten wir oft. Wir stempelten einfach die Karte einer Freundin mit ab, die nicht anwesend war.
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