Eine Gruppe von Kindern im Hof des Kinderheims Martin Schwantes, mit der Leiterin Frau Heuer. Elke und ich sind nicht dabei.
Frau Heuer war eine ganz besondere Heimleiterin. Meine Erinnerung an sie ist bleibend. Sie war nicht nur Chefin und Erzieherin, sondern vor allem bemüht, allen ihr anvertrauten Kindern musikalische Bildung zu vermitteln. Sie hatte das nie studiert, aber sie verfügte über ein großes musikalisches Wissen und konnte dieses auch weitergeben. Ich erinnere mich, dass wir irgendwann bei einer Chorprobe von einigen fremden Männern kritisch beobachtet wurden. Das war die praktische Prüfung für Frau Heuer, sie hatte gerade im Fernstudium ihren Abschluss als Chorleiterin bestanden!
Sehr gut entsinne ich mich an unsere erste Nacht im Martin-Schwantes-Heim. Elke und ich wohnten in verschiedenen Zimmern und ich musste – wie immer – aufs Klo. Ich wusste aber nicht mehr, wo das Klo war, und hatte Angst in diesem fremden Haus. Das Ende vom Lied: Ich machte ins Bett. Am nächsten Morgen erzählte ich das sofort Elke. Sie durfte im Zimmer bleiben und musste nicht mit auf den Hof zum Frühsport. Also deckte sie schnell das nasse Laken einfach ordentlich mit der Bettdecke zu, niemand merkte etwas und abends war alles wieder trocken.
Immerhin wusste ich, wo das Zimmer lag, in dem Elke schlief. Also ging ich in der folgenden Nacht meine Schwester wecken: »Ich muuuusssss!« Elke brachte mich aufs Klo. Ich war schon sehr froh, eine große Schwester zu haben.
An dieses Heim habe ich die buntesten Erinnerungen. Wir gingen in die ganz normale Schule des Ortes, und es dauerte gar nicht lang, bis ich wieder einen Freund fand. Einen aus der Stadt, der in die Parallelklasse ging. Wir hüteten zusammen Ziegen. Manfred Lachetta saß mit mir auf der Wiese und erzählte aus seinem achtjährigen Leben. Warum weiß ich seinen Namen noch? Seine Erzählungen müssen mich offenbar mächtig beeindruckt haben.
Und wieso hüteten wir Ziegen? Unser Heim hielt auf dem Hof allerhand Getier. Für die Hühner sammelten wir Maikäfer, die Schweine bekamen die Essenreste und die Ziegen wurden gehütet und gemolken. Anfang der fünfziger Jahre lief das mit der Verpflegung eben noch nicht so rosig bei uns. Da war diese Idee eines kleinen Bauernhofs schon ideal.
Die Hühner legten Eier, und manchmal schlüpften kleine Küken. Die waren so süß, dass wir sie heimlich mit aufs Zimmer nahmen. Das tat diesen kleinen Federbällchen leider gar nicht gut. Nur Liebe, das reichte nicht. Schließlich kam alles heraus. Es folgte Schelte, dann eine große Beerdigungsfeier und wir schworen uns: »Das machen wir niiieee wieder!«
Montags gab es Milchreis mit Zucker und Zimt oder Makkaroni mit Tomatensoße. Beide Gerichte mag ich bis heute nicht. Wenn das ganze Haus danach roch … o nein!
Makkaroni-Essen war für mich wie Schlauchschlucken. Alle Kinder spielten schon auf dem Hof, während ich noch immer vor meinem Teller saß. Die Makkaroni waren längst kalt. »Es wird aufgegessen, es wird nichts weggeschmissen!«, hieß es nämlich. Wieso eigentlich, fragte ich mich, wir hatten doch die Schweine! Aber gut, vielleicht mochten die ja auch keine Makkaroni.
Irgendwann kam eine Erzieherin und wollte das böse Spiel beenden. »Jetzt nimm doch wenigstens einen Happs«, sprach sie zu mir. Ich nahm – und erbrach mich, direkt auf den Teller. Ich musste nie wieder Makkaroni essen.
Blutwurst hingegen mochte ich sehr, zumindest damals. Fuhren wir zu Chor-Wettbewerben, bekamen wir jeder ein Futterpaket. Meistens war da auch Blutwurst drin, die die wenigsten Kinder mochten. Elke und ich schlugen uns damit den Bauch voll. Diese Blutwurstzeit reichte offenbar für mein ganzes Leben. Denke ich heute daran, schüttelt es mich.
Überhaupt war der Chor das Wunderbare hier. Die Heimleiterin, Frau Heuer, formte aus dem gesamten Kinderheim einen Chor. Ihr Motto lautete: »Jedes Kind kann singen!« Na ja, das stimmte … fast. Irgendwie konnten wir es tatsächlich alle. Nur ein Mädchen nicht, das brummte immer nur vor sich hin. Dieses Mädchen hieß ausgerechnet Helga Lerche. Natürlich kam Helga mit, wenn wir zu Auftritten fuhren. Allerdings hatte sie strengstes Verbot, mitzusingen. Sie sollte nur den Mund bewegen und tonlos den Text mitsingen. Frühes Vollplayback eben.
Helga stand natürlich immer ganz hinten. Noch weiter hinten stand bei einem Auftritt eine große Blumenvase. Kurz vor Beginn unserer Vorstellung nervte ich Elke:
»Duuuu, ich muss mal!!!« Elke wandte sich an eine Erzieherin, doch die wusste auch keine Lösung. Nach vorn raus konnte ich nicht mehr, und hinter der Bühne war keine Toilette, also hieß es: »Geh auf die Blumenvase.« Das klappte prima, erleichtert konnte ich mitsingen.
Apropos aufs Klo müssen und die Probleme damit: Ich hatte später das Glück, dass viele Frauen, die ich auf meinen Westtourneen kennenlernte, ihre Schränke für mich öffneten: »Du bist ja so dünn«, sagten sie zu mir, »ich habe so viele Klamotten, die mir zu klein sind. Würdest du die nehmen?« Und wie ich würde! So kam ich zu meinem ersten Overall. Kaum zurück zu Hause war ich schon wieder unterwegs zu einer Veranstaltung. Wir fuhren auf der Autobahn von Berlin nach Hohenstein-Ernstthal, als ich mal wieder ganz dringend musste! Raststätten: Null, Toiletten: Null! Kein Problem, wir waren ja dran gewöhnt, in den Wald zu gehen. Also ging ich – und stellte mit Entsetzen fest, als ich den Overall runterzog: Ich saß, da ich keinen BH trug, völlig nackt inmitten der Bäume. FKK am Strand – logisch und kein Problem, aber im Wald, direkt neben der Autobahn? Fortan zog ich dieses schicke Teil nie wieder zu einer Mugge an.
Ja, das ganze Kinderheim war ein einziger Chor, und mir jedenfalls machte das Singen riesigen Spaß. Elke wurde sofort als Sopran eingeteilt. Ich mit meinem kindlichen Alt stand hinten, sang die zweite oder dritte Stimme.
Wir hatten täglich Proben. Unser Tag begann mit einem Morgenkreis. Da sangen wir ein Morgenlied, zum Beispiel: »Bald prangt, den Morgen zu verkünden, die Sonn auf gold’ner Bahn …« Erst viele Jahre später wurde mir klar, was ich da als Achtjährige mit Inbrunst trällerte: Das Lied der drei Knaben aus Mozarts Zauberflöte.
So unendlich viele Lieder sind leider vergessen, die meisten werden nicht mehr gesungen. Wie oft rufen Elke und ich uns an, weil da plötzlich ein Lied im Kopf ist und die Frage steht: »Wie geht es weiter?« Gemeinsam packen wir das dann. Am Ende singen wir am Telefon ein Lied, das außer uns fast keiner mehr kennt.
»Es ließ sich ein Bauer ein’ Paltrock schneid’n« – dieses Lied haben wir im Heim nicht nur gesungen. Wir stellten musikalisch dar, wie sich Bauer und Schneider stritten, weil besagter Rock verschnitten war. Oder das »Besenbinderlied«. An seinem Schluss sang ich voller Inbrunst: »Leute, wer kauft mir Besen ab!« Frau Heuer gab uns also nicht nur Gesangsunterricht, sondern vermittelte uns auch die Freude an der darstellenden Kunst.
Diese Freude verspürte ich schon immer. Ganz früh hatte ich in Wismar im Kino Schwarzwaldmädel mit Sonja Ziemann gesehen und auch jede Menge Heimatfilme mit ihr. In irgendeinem Film muss sie ein Reh mit der Flasche aufgezogen haben. Ich weiß jedenfalls ganz genau, dass Sonja Ziemann einen meiner Berufswünsche prägte: Förstersfrau!
Meine zauberhafte Erzieherin hieß ebenfalls Fräulein Ziemann. Natürlich war sie für mich dem Film entstiegen und ich liebte sie als mein Schwarzwaldmädel.
Mit meiner Freundin Romanda Keller sang ich nicht nur. Wir beide gingen gern in den Krämerladen, um uns für zehn Pfennig eine riesige saure Gurke zu kaufen. Ich weiß bis heute nicht, ob die Schönebecker auch diesen geringen Preis zahlen mussten, oder ob der Ladenbesitzer nur den Heimkindern eine Freude bereiten wollte. Romanda wurde als namenloses Baby in einem Keller in Rumänien gefunden und bekam vom Jugendamt ihren wunderschönen Namen.
Читать дальше