Seit ich denken kann, habe ich auf dem rechten Fußspann eine Narbe. Ich machte mir darüber nie besondere Gedanken, meine Schwester hatte sie auch. Also nahm ich an, jeder habe das. Eine »Fußnarbe« rechts.
Später fragte ich meine Mutti doch einmal, was das sei. Sie antwortete: »Das ist die Narbe von der üblichen Pockenimpfung.«
Diese Impfung wurde normalerweise automatisch in den Oberarm injiziert. Mutti aber befand: »Nein! Wenn die kleinen Mädchen mal junge Frauen sind und ein ärmelloses Kleid tragen möchten, ist der Arm verunstaltet. Auf dem Fuß ist es uninteressant.« Tja, meine Mutti.
Das ganze Heim ein Kinderchor
Mutti entschloss sich 1951, auf die Medizinische Fachschule nach Magdeburg zu gehen. Sie wohnte dort in einem Studentenheim mit Doppelstockbetten und zu viert im Zimmer. Elke und ich kamen in ein Kinderheim nach Elbenau, heute ein Ortsteil von Schönebeck, unweit von Magdeburg.
Ich ging mittlerweile in die 2. Klasse. Und das Beste war, ich kam mit Elke gemeinsam in eine Klasse. Es war eine Zwergschule, weil es im Dorf ja auch nur wenige Kinder gab. Die jeweils nicht angesprochenen Klassen bekamen schriftliche Aufgaben, waren also beschäftigt. Nebenbei konnten sie gleich mithören, was der Lehrer den anderen erklärte. So etwas funktioniert auch heute, in der Grundschule werden oft zwei oder drei Klassenstufen zusammen unterrichtet. Ich erinnere mich aber auch daran, dass der Herr Lehrer aufmüpfigen Schülern mit dem Zeigestock auf die Hände schlug. So schaffte er Ruhe. Lehrer durften das. Damals existierte wohl noch die Prügelstrafe.
Ich liebte die »Tanten« im Elbenauer Kinderheim. Wenn wir in dem großen Aufenthaltsraum tobten und spielten, gab es, auch wenn wir noch so übermütig waren, keine bösen Worte.
Natürlich hatte dieses Heim auch einen Heimleiter. An den kann ich mich aber gar nicht mehr erinnern, da er für Leitung, Organisation sowie das Büro zuständig war. Dazu betreute er die großen Jungs.
Allerdings entsinne ich mich an ein Ereignis, bei dem ich einigen Respekt vor ihm bekam. Neben dem Heim lag der Dorfteich, der im Winter zufror. Uns war strengstens verboten, den vereisten Teich zu betreten. Wir ließen zumindest unsere Schulmappen auf ihm schlittern. Einmal kam ein Ranzen, der von einem Jungen angeschubst wurde, nicht am anderen Ufer an. Der Junge ging aufs Eis, um nachzuhelfen. Er brach ein, konnte sich selbst retten, wurde dann aber vom Heimleiter tüchtig versohlt. Heute denke ich dabei an die Reaktion einer jeden Mutter, wenn sich ihr Kind auf der Straße von der Hand reißt und Richtung Fahrdamm läuft.
Es gab dort in Elbenau auch ein Krankenzimmer, sicher waren wir alle mal dort drin. Es befand sich oben unterm Dach, und als Elke mal dort einquartiert war, gab es zum Mittagessen Eintopf mit undefinierbaren und wahrscheinlich auch ungenießbaren Fleischklößchen. Der Teller musste unbedingt leer gegessen werden, sonst gab es Ärger. Also runter mit der Suppe, aber wohin mit den scheußlichen harten Klopsen? Schnell öffnete sie die Dachluke einen Spaltweit, und die Dinger kullerten ganz fix in die Dachrinne. So hinterließen sie auch keine Spuren. Das sprach sich unter den Kindern natürlich herum, und immer, wenn es regnete, hatten wir Angst, dass die dort entsorgten Dinge ans Tageslicht gespült würden. Als ich krank war, gab es keine Klopse.
In diesem Heim waren auch zwei Kinder einer Studienkollegin unserer Mutti untergebracht: Eckhard und Almut. Eckhard, genannt Akki, wurde mein Freund. Wir waren gleichaltrig und liefen Hand in Hand, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Jetzt war er mein Beschützer, Elke war abgemeldet.
Auf dem Balkon – Elke hinten links, ich vorn rechts
(neben mir vermutlich Almut)
Ein ganz besonderes Ereignis waren gelegentliche Kinobesuche in Schönebeck. Dazu mussten wir durch einen Wald laufen oder neben dem Wald her am Feld entlang gehen.
Der Wald war hochinteressant für uns. Es lagen Stahlhelme, Munitionsreste und Panzerteile darin, eben lauter Kriegsüberbleibsel. Heimlich sammelten wir diese »Schätze« auf. Natürlich war uns das streng verboten. Deshalb sollten wir auch immer den Feldweg nach Schönebeck nehmen.
Irgendwann ging das Gerücht um, in diesem Wald halte sich ein Mörder versteckt. Vielleicht war dem tatsächlich so, möglicherweise aber war das Ganze auch von den Erzieherinnen erdacht und verbreitet worden, um uns wirklich vom Wald fernzuhalten.
Einen Rückweg vom Kinobesuch werde ich nie vergessen: Wir kamen aus Schönebeck und wanderten in Gruppen den Feldweg entlang nach Hause, ins Heim. Plötzlich schrie ein Kind ganz laut: »Der Mörder!« – und zeigte wild gestikulierend in den Wald. Ich sah dort niemanden, aber alle rannten schreiend und wie verrückt los. Ich lief neben meiner Schwester Elke, die aufgrund ihres gelähmten Beins nicht so schnell laufen konnte. Bald waren alle Kinder verschwunden. Elke und ich liefen, so schnell sie konnte.
Ich litt Todesangst, wollte aber unter allen Umständen bei Elke bleiben. Verzweifelt schickte ich ein Gebet zum Himmel: »Lieber Gott, lass Akki kommen!«
Da hörte ich hinter uns ein mir bestens vertrautes Stimmchen rufen: »Urte!«
Es war Akki. Er war seiner Gruppe vorausgelaufen, weil er mich in der vorherigen wusste. Fortan glaubte ich an den weißbärtigen, alten Mann im Himmel.
Neben dem lieben Gott gab es noch einen Mann, den ich nie gesehen hatte, den ich aber toll fand. Er hatte nämlich am 21. Dezember Geburtstag – genau wie ich! Es war Josef Wissarionowitsch Stalin, natürlich ein »Russe«! Sein Lieblingslied »Suliko« gefiel mir so sehr. Suliko ist ein georgischer Vorname, und der Text des Liedes beginnt mit der Zeile: »Sucht ich, ach, das Grab meiner Liebsten …« Ich liebte dieses Lied, und weil der Mann mit diesem komischen Namen dieses Lied auch mochte, war er mein Freund.
Eines Tages fand eine große Feier statt. Stalins Bild stand im Essensaal, drum herum unzählige Blumen, jemand hielt eine Rede. Stalin war gestorben, ich weinte bitterlich. Ich glaube, ich war die Einzige, die das tat. Von nun an war ich ganz allein mit diesem 21.-Dezember-Geburtstag. Es reichte doch schon, dass ich mit meinem Namen so allein dastand. Kein anderes Kind hieß Urte, einfach doof! Ute war ein »richtiger« Name, aber Urte? Wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, nannte ich stolz meinen nicht so seltenen zweiten Namen dazu: »Urte Grabbiele.« Gabriele war zu kompliziert.
Geliebt habe ich mein Poesiealbum. »Poeeeesi«, sagten wir dazu, und auch der Heimleiter hatte sich in dem meinen verewigt.
Die Zwergschule hatte nur drei Klassen. Da Elke aber am Schuljahresende in die 4. Klasse kam, zogen wir beide um. Wir kamen in das Martin-Schwantes-Heim nach Salzelmen, ebenfalls ein Ortsteil von Schönebeck. Das war ein reines Mädchenheim. Es wohnten dort Waisenkinder, Findelkinder, aber auch solche wie wir – Kinder von alleinerziehenden Müttern, die gerade studierten oder im Schichtdienst arbeiteten.
Ansicht von Bad Salzelmen (Foto: picture alliance / arkivi)
Immer wenn ich irgendwo erzähle, dass ich mehrere Jahre im Kinderheim gewesen bin, werde ich bedauert, weil das ja nach allgemeiner Auffassung eine schreckliche Zeit gewesen sein muss. Jahre voller Missbrauch und Gewalt. Gelegentlich werde ich dann bewundert, dass ich nicht kriminell geworden bin.
Ganz im Gegenteil. Meine Zeit im Martin-Schwantes-Heim war wirklich schön. Ich empfand das Ganze als eine Art Ferienlager. Vor allem hatte diese Phase einen ganz entscheidenden Einfluss auf meine musische Entwicklung. Nicht nur mir ging es so. Der Dirigent Günter Krause, den ich bei der Sendung »Von Polka bis Parademarsch« kennenlernte, erzählte mir, dass er in einem Kinderheim in Thüringen aufgewachsen war. Auch er hatte dieses »Ferienlager-Gefühl«, und es wurde ihm dort ermöglicht, ein Instrument zu erlernen, um später ein Musikstudium zu ergreifen. Wir erlebten ein besorgtes Behütetsein im Kinderheim!
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