Deshalb wird auch die Bezeichnung Amoklauf zahlreichen Taten mit schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen nicht gerecht, da sie sich oftmals dadurch auszeichnen, Resultat klarer Planung und bestimmten Entwicklungsvorgängen zu sein. Die Öffentlichkeit und die Medien werden von den Tätern dabei in erster Linie als Publikum gesehen, um Rache und Aufmerksamkeitstaten entsprechend zu inszenieren. Da es sich vorwiegend um jugendliche Täter handelt, wird die Schule oft zum Ort des Geschehens.
In den vergangenen Jahren wurde in der Wissenschaft eine neue Begrifflichkeit eingeführt, wodurch Amoklauf an Schulen ersetzt wurde: School-Shooting. Dieser Begriff beinhaltet den Ankündigungscharakter, der typisch für diese Art des Amoks ist. Er schließt den Aspekt, spontan zu handeln und blind vor Wut zu sein, aus. Treffender ist es, von einer kalten Wut zu sprechen, die aus einer inneren Rationalität heraus mit gnadenloser Konsequenz exekutiert wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass es während der Tat nicht zu Raserei oder zu einem Blutrausch kommen kann. Möglicherweise ist deswegen die Bezeichnung Amoklauf auch bei School-Shootings in westlichen Industrienationen im allgemeinen Sprachgebrauch immer noch präsent – vor allem deshalb, weil es sich dabei um Personen handelt, die schwere Gewalttaten scheinbar wahllos gegen andere Personen richten. Wegen dieser nicht ausreichend eindeutigen Begrifflichkeit werden im Folgenden die Bezeichnungen Amok, Amoklauf und School-Shooting weitgehend synonym verwendet. Weiterhin wird, da es bisher keine klare deutschsprachige Bezeichnung für solche Taten gibt, der Begriff Schulanschlag eingeführt.

Schulanschlag beschreibt Taten, bei denen ein Täter gegenüber aktuellen oder früheren Angehörigen einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung gezielt und am Ort seiner empfundenen Demütigung schwere Gewalttaten plant und umsetzt.
Dabei darf ein Aspekt nicht außer Acht gelassen werden: Der Terror und die Angst, die hinter Schulanschlägen stecken, sind nicht nur Strategie des direkten Täters, sondern auch der zahlreichen Trittbrettfahrer, die mit dem Grauen eines zuvor stattgefundenen School-Shootings spielen und damit ihre eigene Welt und ihr Umfeld, die Schule und die dort agierenden Personen, unter Druck setzen. Wer es als wütender Schüler oder frustrierte Schülerin den anderen mal so richtig zeigen will, wer eigene Machtgefühle durch Angsteinjagen ausleben möchte, der muss nur ein paar anonyme Drohungen machen. Bei geschätzt 45.000 Schulen in Deutschland, über 6.000 in Österreich und rund 6.500 in der Schweiz ist nicht nur die Zahl möglicher Drohziele enorm, sondern eine maximale öffentliche Aufmerksamkeit ist garantiert. Schulen gelten als Schon- und Rückzugsraum für Kinder und Jugendliche. Wer massiv in diese Welt einbricht, beispielsweise mit einer Todesdrohung, begeht damit eine maximale Grenzüberschreitung.
1.3 Schulanschläge und Drohungen als kommunikativer Akt
Schulanschläge und Drohungen mit einem Amoklauf müssen als kommunikativer Akt begriffen werden, wie es bereits der Soziologe Lorenz Graitl in seinem Buch Sterben als Spektakel 2beschreibt. Er geht zwar nur am Rande und aus Gründen der Abgrenzung spezifisch auf Amokläufer ein, dennoch lassen sich viele seiner kommunikationsbezogenen Erkenntnisse auf die Motivation von Schulattentätern übertragen. Tatsächlich sind die Medien das erste Hilfsmittel zur Verbreitung der Tat, wenn es in einem solchen Fall um kommunikative Aufmerksamkeit geht. Schulanschläge und ihre Androhung erfüllen alle journalistischen Kriterien, die solche Ereignisse zu einem Topthema machen: Eine hohe Dramatik und Aktualität, die persönliche Betroffenheit vieler Leser, Hörer und Zuschauer, eine große emotionale Tiefe des Themas und außergewöhnliche kriminelle Energie kommen hier zusammen. Die Medien sind zur Berichterstattung gezwungen und müssen permanent darauf achten, dass die Weitergabe der Informationen trotz des aktuellen Drucks angemessen bleibt. Die Berichterstattung in Winnenden konnte dem nicht immer standhalten, wie die folgende Abbildung zeigt.
Abb. 1: Medienschlagzeilen zum Schulanschlag von Winnenden (2009)
Eine reißerische Aufmachung der Berichterstattung kann vom Täter auch als Gratifikation aufgefasst werden. Auf der einen Seite besteht ein großes öffentliches Interesse an derart weitreichenden Ereignissen, gleichzeitig erfüllt ein Journalist, der über einen angedrohten oder durchgeführten Schulanschlag berichtet, aber auch die Handlungserwartungen des Täters und trägt damit zur Faszination des Terrors bei.
1.4 Werther- und Copycat-Effekt
Diese Problematik gab und gibt es auch bei anderen Themen, die im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stehen. So löste Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers mit seinem Erscheinen 1774 eine regelrechte Nachahmungswelle von Selbsttötungen aus. Fachleute sprechen deshalb bis heute vom Werther-Effekt, wenn mediale Berichterstattung über ein (Tötungs-)Ereignis zu entsprechenden Nachahmungstaten führen. In der englischsprachigen Medienwirkungsforschung ist in diesem Zusammenhang auch vom Copycat-Effekt die Rede: Was medial ausführlich dargestellt wird, regt Nachahmer an. Dass es sich keineswegs um einen antiquierten Effekt handelt, wurde 1981 auf tragische Weise belegt: Das ZDF strahlte die sechsteilige Fernsehserie Tod eines Schülers aus. Der Selbstmord des 19-jährigen Schülers Claus Wagner, der sich vor einen Zug wirft, steht im Mittelpunkt der Serie. In der Folgezeit stieg die Suizidrate unter 15- bis 19-jährigen männlichen Schülern um 175%. Bestätigt wurde dieser Effekt, als die Staffel 1983 trotz der Warnungen von Psychologen noch einmal gesendet wurde. Die Zahl der Nachahmer-Selbstmorde stieg erneut auf über das Doppelte an. Obwohl das ZDF anschließend Studien vorlegte, nach denen die Serie und die gestiegene Zahl der Selbstmorde auf Bahngleisen nicht ursächlich miteinander zu tun hatten, ließen die Fernsehverantwortlichen die sechs Folgen dennoch bis vor wenigen Jahren für die Videoauswertung sperren.
Wichtige Aspekte für die Nachahmung solcher Taten ist die Anzahl der konkreten Identifikationspunkte. Je mehr sich ein Leser oder Zuschauer mit der dargestellten Figur identifizieren kann und je mehr Einzelheiten über das Umfeld, aber auch über die Tat selbst geschildert werden, umso leichter wird es potenziellen Nachahmern gemacht.
Der Arzt und Psychiater Volker Faust 3warnt vor diesen möglichen Identifikationspunkten und bittet die Medien bei der Suizidberichterstattung ausdrücklich um die Einhaltung folgender Punkte:
•Angaben zur biologischen und sozialen Identität vermeiden.
•Angaben zur Suizidmethode und zum Ort des Selbstmords vermeiden.
•Keine Spekulationen über Hintergründe und Motive anstellen.
Damit könne, so Faust, wirksame Prävention im Hinblick auf Nachahmungstäter betrieben werden, um den Werther-Effekt nicht erst entstehen zu lassen.

Ausgiebige Hintergrundinformationen zum Werther-Effekt vermittelt der Arzt und Neurologie-/Psychiatrieprofessor Volker Faust auf der Webseite http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html.
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