(1) Führt das extensive Multitasking junger Menschen vermehrt zu Aufmerksamkeitsstörungen und Konzentrationsdefiziten?
In manchen Hörsälen referiert vorne eine Dozentin oder ein Dozent, die Studierenden sitzen hinter ihren Laptops, machen Notizen, rufen im Internet Schlüsselbegriffe ab, ordnen ihre E-Mails, senden oder empfangen hin und wieder auch Botschaften über iPhone – und fühlen sich nach eigenen Aussagen wohl und überhaupt nicht überfordert. »I multitask every single second I am online. At this very moment, I am watching TV, checking my email every two minutes, reading a newsgroup about who shot JFK, burning some music to a CD and writing this message«, berichtet ein Siebzehnjähriger. 21Dieses Verhalten nennen wir mediales »Multitasking«. Eine Studie aus dem Jahr 2003 belegt, dass »fast ein Drittel der untersuchten Jugendlichen beim Hausaufgabenmachen meistens telefoniert, chattet, fernsieht, Musik hört oder im Internet surft«. 22
Multitasking beschäftigt in erster Linie das Arbeitsgedächtnis, mithin Areale des frontalen Cortex. Wenn wir mit Torkel Klingberg annehmen, 23dass Multitasking vom Belastungsgrad des Arbeitsgedächtnisses abhängt und dass gewisse »Exekutivfunktionen« desselben trainierbar sind, lässt sich die Vermutung anstellen, dass Digital Natives, die sich täglich stundenlang mit mehreren digitalen Endgeräten gleichzeitig beschäftigen, sich auch eine entsprechende Parallelverarbeitung aneignen. Und genau dies scheint der kritische Punkt zu sein: Wenn die zu bewältigenden Aufgaben hoch habitualisiert und automatisiert sind, reicht die neuronale Stirnhirn- und Aufmerksamkeitskapazität aus: Wir können durchaus ein Auto lenken und dazu ein Gespräch führen oder Musik hören. Die Kombination von Autofahren und mit dem Handy jemanden anrufen übersteigt diese Kapazitätsgrenze und führt unweigerlich zu hohem Aufmerksamkeitsverlust und zu Fehlreaktionen. Dies hat zum Verbot des Handygebrauchs während des Autofahrens geführt.
Mittlerweile gibt es eine wahre Flut von Multitasking-kritischen Artikeln und Büchern. Der amerikanische Wissenschaftsjournalist Nicolas Carr warnte (2008) nicht nur mit einem wegweisenden Artikel »Is Google making us stupid?« vor den Untiefen des Internets, er befürchtet auch, dass das Multitasking Konzentrationsfähigkeit, Nachdenklichkeit und Reflexionstiefe zerstört. Im deutschen Sprachraum warnt der Journalist Frank Schirrmacher mit deftigen Titeln wie »Multitasking ist Körperverletzung«. 24Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel verweist darauf, dass die konstante Überforderung des Multitaskings zu einer markanten Aufmerksamkeitsstörung führen kann – und sie bezeichnet darüber hinaus Multitasking als Mythos, denn das Gehirn könne niemals gleichzeitig zwei anspruchsvolle Aufgaben parallel bearbeiten. Wir müssten vielmehr eines nach dem andern tun, das heisst ein »serielles Multitasking« 25pflegen – oder zwischendurch »einfach abschalten«. 26Zwar räumt der amerikanische Neurowissenschaftler Gary Small ein, Multitasking bzw. das Hin- und Herspringen zwischen zwei Aufgaben sei offenkundig zu einer notwendigen Fähigkeit geworden, aber mit psychischen Unkosten verbunden, zum Beispiel mit Zeitverlust beim Aufmerksamkeitswechsel und darüber hinaus mit der Gefahr des Erwachsenen-ADHS. 27Small kommt zum Schluss: »Wenn wir das Multitasking minimieren, verbessern wir damit im Allgemeinen unsere Konzentrationsfähigkeit.« 28Prägnant ablehnend äussert sich auch Manfred Spitzer: »Multitasking – Nein danke!«. 29Er belegt seine ablehnende Haltung gegenüber Multitasking (wie übrigens auch Gary Small, Lutz Jäncke und andere) mit dem Hinweis auf eine amerikanische Untersuchung von Clifford Nass et al., 30in welcher Extremgruppenvergleiche zwischen intensiven und leichten Multitaskern und Multitaskerinnen gemacht wurden. Die Ergebnisse waren eindeutig:
Je mehr Distraktoren (ablenkende Reize) im Spiel sind, desto schlechter sind die Heavy-Multimedia-Users.
Je schwerer die Arbeitsgedächtnis-Aufgabe ist, desto schlechter sind die Heavy-Multimedia-Users.
Je schwerer die Multitasking-Aufgabe, desto langsamer arbeiten die Heavy-Multimedia-Users.
Gesamthaft kann man sagen: Intensives und anhaltendes Multitasken reduziert die Fähigkeit, irrelevante Inhalte auszublenden, verlangsamt den Aufgabenwechsel – und führt schliesslich zu einem oberflächlicheren und weniger effektiven kognitiven Stil.
Einen erhellenden Beitrag zum Problem Multitasking hat jüngst Etienne Koechlin vom Laboratoire de Neurosciences Cognitives in Paris publiziert. 31Er konnte nachweisen, dass zwei konkurrierende Aufgaben auf die Frontalaktivität der beiden Hemisphären aufgeteilt werden – und damit auf eine wohl strukturelle neuronale Kapazitätsgrenze stösst: Die Studie belegt, dass das Gehirn maximal zwei Aufgaben gleichzeitig bewältigen kann.
Damit ist ein handlungsrelevantes Fazit zu ziehen: Multitasking ist im Normalfall wahrscheinlich gehirnstrukturell und durch die Aufgabenschwierigkeit limitiert. Hoch automatisierte Handlungen erlauben es allenfalls, zwei Aufgaben parallel zu bearbeiten – allerdings mit dem erhöhten Risiko, mehr Fehler zu machen, die Konzentration und Aufmerksamkeit zu überfordern und letztlich mehr Zeit zu benötigen. Bei anforderungsreichen Aufgaben ist das Nacheinander konzentrierter Zuwendung lernpraktisch optimaler – und sogar für den schnellen Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben günstiger.
(2) Machen Computerspiele Jugendliche gewalttätig oder klug?
Das vom Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer 2005 publizierte Buch »Vorsicht Bildschirm« wirkte wie ein Fanal im Feldzug gegen Computer- und Internetspiele – und darüber hinaus gegen deren Einsatz in der Schule. Spitzer erwähnt mehrere Schulamokläufe (Littleton, Erfurt usw.), deren Täterinnen und Täter »sehr viel Zeit mit dem Spielen von Gewaltvideospielen« verbracht, somit Gewalt aktiv und selbstbelohnt trainiert und in das Verhalten implantiert hatten. 32Spitzer resümiert diesen Zusammenhang linear und eindimensional: »Aus der virtuellen Gewalt (wird) grausame Realität.« 33
Die monokausale Sicht Spitzers wurde allerdings schon bald durch Untersuchungen infrage gestellt, welche jugendliche Gewalt als mehrfaktoriell verursachtes Phänomen beschreiben. 34Zu diesen Faktoren gehören beispielsweise geschädigtes Selbstwertgefühl, niedrige Beliebtheit, verletzende häusliche und schulische Realerfahrungen, bedrückende soziale Rahmung – und nicht zuletzt mangelnde Geschmacksbildung im Umgang mit Computerspielen im Einstiegsalter von 8 bis 10 bzw. 12 Jahren. Von Salisch belegt, dass man Gewalt nicht nur als Wirkung von Gewaltspielen, sondern genau umgekehrt die Wahl von Gewaltspielen als Ausdruck personverankerter Aggressionsbereitschaft verstehen kann. Der Zusammenhang zwischen Internetgebrauch bzw. Ego-Shooter-Spielen und Gewalttätigkeit ist durchaus vorhanden, aber gewalthaltige Spiele sind nicht die einzige Ursache. Insbesondere jugendliche Schulamoktaten werden derzeit als Zusammenwirken diverser »Risikofaktoren« erklärt: Sozioökonomischer Hintergrund, Missbrauch, Mobbingerfahrungen, defiziente Schulbiografie, gewalthaltiges Erziehungsumfeld, spezielle Peer-Beziehungen, intensiver Konsum gewalthaltiger Spiele usw. bis zu neuronalen Defiziten im Sinne fehlender Risikobewertung, Verhaltenskontrolle und Impulshemmung … können bei Gewalthandlungen wirksam sein. Überdies können im »Wirklichkeitstransfer« von der virtuellen in die reale Welt und umgekehrt eingeübte Skripts und Schemata, sowohl Leistungs- als auch Flucht- und Vergeltungsmotive eine Rolle spielen. 35
Einen eigentlichen Paradigmenwechsel im Verständnis der Bedeutung von Internetspielen wird durch neueste Untersuchungen und Sichtweisen gefördert. Differenzierte Befragungen belegen, dass Computer-, Internet- bzw. Online-Spiele nicht die einzige und schon gar nicht die dominierende digitale Nutzung sind: Sowohl die BITCOM-Studie (2011) als auch die JAMES-Studie von 2010 zeigten höchst differenzierte mediale und digitale Portfolios und Nutzungsprofile:
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