Mit Hinblick auf Prävention, Aufklärung und Förderung der Medienkompetenz, speziell bezüglich kritischer und qualitativ anspruchsvoller Informationsnutzung, gibt es eine breite Palette von Interventionsmöglichkeiten. Diesbezüglich sind verschiedene Akteure angesprochen: Politiker, Eltern, Lehrkräfte, Gesetzgeber, Akteure der Medienindustrie, Dienstanbieter usw. Das Instrumentarium umfasst technische, rechtliche und (medien-)pädagogische Massnahmen, die – wie in der Abhandlung detailliert gezeigt wird – den epochalen, örtlichen, bildungspolitischen, entwicklungsspezifischen, lehr- und lernkontextuellen Erfordernissen und nicht zuletzt organisatorischen und finanziellen Mitteln anzupassen sind. Der naheliegende Ruf nach Verboten und gesetzlichen Einschränkungen ist im Raum der oft unkontrollierbaren Prozesse im digitalen Geschehen selten angemessen und wirkungsvoll. Hier gelten traditionelle pädagogische Ansichten, die von der Unterstützung des Positiven mehr erwarten als von der Gegenwirkung.
Das vorliegende Buch basiert auf einer Studie, die im Rahmen eines Umfeldmonitorings zu den Risiken und Gefahren im Internet für Schülerinnen und Schüler der Volksschule zuhanden des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements des Kantons Graubünden (Schweiz) an der Forschungsstelle für Informationsrecht (Universität St.Gallen) in Zusammenarbeit mit dem Berkman Center for Internet & Society (Harvard University) erstellt worden ist. An der Studie haben neben den Autoren dieses Buches auch Assistierende mitgewirkt, namentlich Herr Phil Baumann und Frau Aurelia Tamò, denen an dieser Stelle für die Mitarbeit herzlich gedankt sei. Den Direktoren der Forschungsstelle, Herrn Professor Peter Hettich und Herrn Professor Florent Thouvenin, danken wir für die vielgestaltige Unterstützung dieses Vorhabens. Ein besonderer Dank geht ferner an die Projektverantwortlichen des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements des Kantons Graubünden, an die Herren Dany Bazzell und Christian Sulser, für die Zusammenarbeit und wertvolle Hinweise.
Für die Buchpublikation haben wir neuestes Zahlenmaterial sowie aktuellste Erkenntnisse aus der Forschung eingearbeitet (Stand: Januar 2012). Darüber hinaus hat sich Herr Dr. Peter Gasser, Vater des Erstautors, freundlicherweise bereit erklärt, Grundgedanken einer digitalen Didaktik vorzustellen, die das Werk nicht nur abrunden, sondern in wichtiger Weise auch den Blick öffnen für die beeindruckenden Möglichkeiten und Bildungschancen, die das Internet jungen Menschen bietet und die es gemeinsam zu nutzen gilt. Die realistische Einschätzung der Risiken und Herausforderungen soll dazu einen Beitrag leisten.
Der Herausgeberin und den Herausgebern der vorliegenden Reihe sowie den Mitarbeitenden des hep verlages, insbesondere Herrn Peter Egger sowie Frau Geraldine Blatter, sind wir für die verlegerische Betreuung zu Dank verpflichtet. Ein weiterer Dank geht an den Profilbereich: Unternehmen – Recht, Innovation, Risiko der Rechtswissenschaftlichen Abteilung an der Universität St. Gallen sowie an die dortige Forschungskommission für finanzielle Unterstützung der Drucklegung.
Cambridge/St.Gallen, 4. Februar 2012
Urs Gasser
Sandra Cortesi
Jan Gerlach
Einleitung:
Gedanken zu einer digitalen Didaktik
Peter Gasser
Während manche Tageszeitung davon berichtet, wie in Schulen ein »Handy-Verbot« erfolgreich eingeführt worden ist, um den Pausenplatz als »sozialen Ort« zu retten, wo sich Kinder entspannen, miteinander reden und spielen, anstatt Schlägereien zu filmen und per Handy zu verbreiten, gibt es einzelne Schulen und Schulklassen, die ein »iPhone-Pilotprojekt« starten ( www.projektschulegoldau.ch) oder einen ETHZ-betreuten Kurs als »Programmieren mit Logo« für 12-Jährige durchführen. 1Dieser Widerspruch bildet im Kleinen einen Sachverhalt ab, der sich als teilweise pointierte Auseinandersetzung von internetkritischen Journalisten und Buchautorinnen (Nicolas Carr, Frank Schirrmacher, Gary Small, Sascha Adamek, Susanne Gaschke, Paula Bleckmann usw.) mit namhaften Internetforscherinnen und -forschern manifestiert (Nicola Döring, Christian Schertz und Dominik Höch, John Palfrey und Urs Gasser, Ullrich Dittler, Daniel Süss, Beat Döbeli, Werner Hartmann, Gabi Reinmann, danah boyd usw. ). Grob gesehen, kann man den Eindruck erhalten, dass nur eine streng dichotome Sicht auf mediales Echo stösst, obwohl sich Einzelne durchaus um eine nuancierte Betrachtungsweise unter Einbezug von Chancen und Risiken der Mediennutzung bemühen. 2Bei uns Menschen ist wohl neuronal verankert, in einem öffentlichen Diskurs vorerst einmal alles entweder als gut oder böse zu bewerten. Eine differenziertere Sicht bedarf allerdings grösserer mentaler Anstrengung.
Neuere Untersuchungen wie JAMES focus 2011, JAMES-Studie 2010, JIM-Studie 2011 usw. belegen, dass die elektronischen Medien die Kommunikation und Sachaneignung im ausserschulischen Alltag von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren dominieren und die entsprechenden Medienkompetenzen (vom E-Mailen über Googeln, Twittern, Chatten, Bloggen, Simsen bis zum Nutzen sozialer Netzwerke wie Facebook, MySpace, SchülerVZ usw.) ausserschulisch, meist in Peer-Groups eingebettet, selbstgesteuert und mit informellem Lernen erworben worden sind. Immerhin haben gemäss BITKOM-Studie die 16- bis 18-Jährigen, das heisst die nach 1980 geborenen Digital Natives mit Internetzugang selbstorganisiert und ausserhalb eines Schulfaches eine beachtliche Medienkompetenz erworben: Ins Internet gehen 97 %, E-Mails versenden 98 %, Textdokumente erstellen und bearbeiten 95 %, Fotos bearbeiten 89 %, Präsentationen erstellen und bearbeiten 89 %, CDs/DVDs brennen 88 %, Tabellen erstellen und bearbeiten 88 %, Lernprogramme nutzen 83 %. Demgegenüber betonen Lehrplanreformer und Interessenvertreterinnen von IT-Firmen sowie von Hochschulinstituten, wie wichtig es sei, Informatik als »Leitwissenschaft« zu respektieren – und als Pflichtfach in die Primarschule (ICT-Kompetenzen, Programmieren), in der Sekundarstufe I (Umgang mit Computer, Vertiefen der ICT-Kompetenzen) und Mittelschulen (Computational Thinking, algorithmisches Denken, Verzahnung mit naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern) einzuführen bzw. im Lehrplan 21, im Plan d’études romand, im Harmos-Projekt und in Gymnasien zu integrieren. 3
Ein drittes Spannungsfeld bzw. ein Widerspruch in der Wahrnehmung ist darin zu finden, dass die »Chancen« oft einseitig dem schulischen Lernangebot, 4hingegen die »Gefahren« (Cybermobbing, Cyberbullying, Sexting, Happy Slapping, Ego-Shooter-Spiele, Urherberrechtsverletzungen, Selbstentblössung und Privatsphärenverlust im Facebook, Computersucht … bis Schulamoklauf) der privaten, ausserschulischen, von Eltern und Schule unkontrollierten Internet- und Mediennutzung zuzurechnen seien. 5
Einleitendes Fazit: Wer sich heutzutage im Bildungsbereich mit Internet- und Informatikfragen auseinandersetzt, bewegt sich zwischen Skylla und Charibdis, das heisst im Spannungsfeld von Ignoranz und Überschätzung, der entgegenzutreten ist: Weder lässt sich eine moderne und lebensnahe Bildung ganz ohne Computer vermitteln oder erwerben, noch lässt sich alles im Internet oder bei Wikipedia finden. Dazu ein Beispiel:
Früher mussten wir als Grundschülerin oder -schüler durch das ganze Dorf laufen, das Dorf mit Holzklötzen darstellen, davon einen Plan zeichnen und diesen mit dem Dorfplan 1:10 000 vergleichen. Heute, so gibt Gunter Dueck zu bedenken, müssten wir nach der »digitalen Revolution im Bildungswesen« überlegen, ob wir dies nicht besser im Netz und mit Computer, das heisst mit Google Earth, mit Google Street View und mit »Rallyes per Navi im Smartphone« erreichen. 6
Das eine ist nicht durch das andere zu ersetzen. Wer das Verständnis für den Dorfplan erwandert und handelnd aufbaut, lernt bewegt und körpernah, transformiert sein Wissen vom enaktiven in den ikonischen und symbolischen Repräsentationsmodus, baut im Marschieren sein Raum-, Distanz- und Zeitbewusstsein auf und integriert neuronal seine Form-, seine Farb-, Geruchs- und Gehöreindrücke zu jener Ganzheit, die er sein Leben lang als »mein Dorf« bezeichnen wird. Und damit ist die Grundlage für digitale Formen der geografischen Orientierung gelegt, die uns beispielsweise Google Earth, Street View und Navigation im Smartphone anbieten. Damit erfahren Lernende allerdings eine Dimension virtueller Realität, die neue Handlungs- und Orientierungsmöglichkeiten schafft, indem beispielsweise zwischen kartografischer und Strassensicht hin und her geschaltet wird oder Zusatzinformationen zu Bewohnerinnen und Bewohnern und Umgebung abgerufen werden können.
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