Wenn wir Bildung in diesem Sinne als Konstruktions- und Integrationsprozess verstehen, lassen sich die im vorliegenden Buch geschilderten Phänomene, Beispiele, Fälle und Probleme in einem relativ konsistenten Modell der »digitalen Didaktik« mittlerer Reichweite – in Ergänzung zu umfangreicheren professionellen Konzepten und zu praxisnahen Handreichungen – einordnen und fruchtbar machen. 7
In pragmatischer Hinsicht begegnen uns im Kontext des medialen Alltags und der dargelegten »Chancen und Gefahren« digitale bzw. informatik- und internetbezogene Phänomene, Erfahrungen, Fälle, Probleme, Projekte und Systeme. Daraus ergeben sich folgende Lehr-Lern-Formen, die sich konzentrisch um das selbstorganisierte sowie angeleitete Lernen anordnen lassen: Exemplarisches Lernen – Erfahrungslernen – fallbasiertes Lernen – problemorientiertes Lernen – Projektlernen – Systematiklernen. Diese Lehr-Lern-Formen knüpfen an die klassischen Modelle und Theorien der Didaktik an, und sie sind sowohl in digitalen Kontexten schulischer Lernangebote als auch im ausserschulischen, informellen und selbstorganisierten Lernen zu finden. 8Sie stehen in einem inneren Zusammenhang und sind so angelegt, dass sie das Potenzial haben, kontextübergreifend wirksam zu werden: Es kann durchaus vorkommen, dass Lernende beispielsweise aus der Presse von einem Fall (z. B. Wikileaks) hören, auf den sie sich gruppenweise einlassen. Im weiteren Verlauf von Recherchen und Suchprozessen beginnen sie digitale Phänomene (z. B. der Rechtmässigkeit, der Quellenqualität) zu klären, dabei technologisches Handlungswissen zu erweitern –, um schliesslich beim Problemlösen und Bearbeiten eines eigenen Projekts zu landen.
Die digitalen Lehr- und Lern-Formen bewirken in der Regel eine Durchmischung der traditionellen Lehrpersonen- und Schülerinnenrollen. In manchen Bereichen und digitalen Handlungsfeldern sind die Lernenden den Lehrenden oft insofern überlegen, als sie ausserschulisch »skills« aufgebaut, das heisst digitale Fertigkeiten und Kenntnisse erworben haben, über die die »Digital Immigrants« (noch) nicht verfügen. Lehrende werden vorübergehend zu Lernenden. Andererseits verfügen Lehrpersonen meistens über hoch strukturiertes und tiefes Hintergrund- und Bildungswissen, über Sichtweisen und Fragestellungen, die auch gut informierten und hoch vernetzten Schülerinnen und Schülern hilfreich sein können. Die hier darzustellenden Lehr- und Lern-Formen sind insofern Indikatoren des geistigen Austauschs und der lebenslangen Bildung.
Obschon es inhaltlich manche Überschneidungen geben mag, lassen sich die im Buch erläuterten Inhalte zu einem lernprozessbezogenen, offenen und digitalen Curriculum zuordnen, wie die folgenden Beispiele belegen mögen.
(1) Das exemplarische Lehren und Lernen bezieht Phänomene wie die folgenden ein bzw. geht sowohl im ausserschulisch-informellen Lernen als auch im Unterricht von Phänomenen aus, die zu klären sind: analog-digital/Digitalisierung – Hypertext – Cyberspace – Web 2.0 – Handy – SMS – MMS – Blog – Chatten – Tool – Apps – Websites – Twitter – Wiki/Wikipedia – virtuelle Welten – Avatar – Open Source – iPhone/iPod/iPad – Cloud – Plattform – Facebook – Nicknamen – YouTube – Google usw. 9Selbstverständlich sind diese und weitere Begriffe nicht nur semantisch zu erklären, sondern handelnd, das heisst im Gebrauchszusammenhang (beispielweise des »mobilen Lernens« mit iPhone) zu klären. 10
(2) Das Erfahrungslernen geht von persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen der Internetnutzerinnen und -nutzer aus, die zu schildern, auszutauschen, zu diskutieren und zu reflektieren sind. Genau genommen, ist alles Lernen dem subjektiven Zugang und der individuellen Konstruktion unterworfen: Jeder lernt mit seinem Kopf und bedient iPhone, iPad und PC mehr oder weniger geschickt mit seinen Händen, realisiert die Chancen des Internets selbst und erfährt die Schattenseiten am eigenen Leibe (z. B. Cybermobbing). Erfahrungsberichte wie die folgenden lassen sich in Beratungssituationen, in Kleingruppen, in Peer-Groups, in Communities und sozialen Netzwerken oder im modularen Unterricht über entsprechend definierte Plattformen austauschen und bearbeiten.
Die 16-jährige Sandra berichtet, wie sie dauernd von »komischen Leuten« per SMS und E-Mail angesprochen, zum Chatten oder zu Offline-Treffen eingeladen wird. Sie ist einigermassen ratlos und weiss vor allem nicht, wie die Leute an ihre Handynummer, an ihre Internet- und Wohnadresse kommen.
Das Erfahrungslernen hat gewissermassen eine passive und eine aktive Seite. Die passive Seite betrifft all das, was uns im Zusammenhang mit Aktivitäten im digitalen Raum begegnet und widerfährt: Man ist beispielsweise einem Cybermobbing ausgesetzt, der PC »stürzt ab«, der Akku ist leer usw. Auf der andern Seite gibt es ein weitreichendes Handlungsfeld, das von »literacies«, das heisst von »skills« bzw. Fähigkeiten und Fertigkeiten besetzt ist und das derzeit unter verschiedenen Titeln diskutiert wird: new literacy, digital literacy, internet literacy, media literacy bzw. Medienkompetenzen, ICT-Anwendungen, Informations- und Internetkompetenzen usw. Im Prinzip geht es um die Fähigkeiten, die es braucht, um digitale Technologien und Angebote gewinnbringend zu nutzen und Gefahren abzuwehren. Ob nun im ausserschulischen Raum des autodidaktischen, selbstorganisierten und P2P-unterstützten Lernens oder im Raum des schulisch moderierten und angeleiteten Lehrens und Lernens, immer geht es um konkrete Handlungen und Fähigkeiten, digitale Prozeduren und Applikationen optimal zu beherrschen, die ihrerseits Grundlagen bilden für die angemessene »Navigationsfähigkeit« des Individuums in der Informationsgesellschaft, und zwar sowohl im privaten wie im (zukünftigen) beruflichen Leben. Um den betreffenden Bildungs- und Schulungsbedarf zu skizzieren, seien im Folgenden einige handlungsleitende Fragen und Themen/Phänomene erwähnt: 11
Wie kann man einen Text (mit verschiedenen Geräten) verfassen, speichern, abrufen, verschicken, korrigieren, erweitern … ins Netz stellen?
Wie lassen sich Bilder und Videos herstellen, sammeln, ordnen, kommentieren … ins Internet stellen?
Wie erstellt man eine Powerpoint-Präsentation, wie stellt man dies ins Netz?
Was ist ein Podcast, wie geht man damit um?
Was ist »Open-Source«-Software, und wie kann man diese nutzen?
Was ist ein Blog, wie eröffnet und führt man einen Blog?
Was ist und wie erstellt man ein Wiki, wie erweitert, bearbeitet man Wikis?
Wie eröffnet, betreibt und nutzt man Foren?
Wie eröffnet und modifiziert man eine eigene Homepage?
Wie nutzt man Facebook, YouTube, MySpace …, und wie schützt man private Daten?
Was kann, darf, soll ein eigenes Profil für ein soziale Netzwerk (nicht) enthalten?
Wie reagiert man auf problematische, z. B. anstössige, gewalthaltige … Inhalte im Internet?
Wie läuft der Einsatz von Web 2.0 beim Lernen?
Wie richtet man eine Lernplattform ein?
Was ist »Moodle«, welche Aktivitäten und Vorteile sind damit verbunden?
Wie richtet man eine Klassenwebsite ein, und wie lässt sie sich betreiben?
Was ist ein Web-2.0-Tool, und wie nutzt man dieses?
Was ist ein Microblog, wie wird er eingerichtet und betrieben?
Was ist ein E-Portfolio, und wie wird es erstellt?
Was sind Tags, und wie setzt man sie ein?
Wie lässt sich im Internet ein Projekt (gemeinsam) planen und dokumentieren?
Was ist RSS-Feed, und wie wird diese Datei genutzt?
Die meisten Lehrpläne fassen diese Fertigkeiten zu Lernbereichen und Themen zusammen, die sie in Bildungs-, Richt- und Grobzielen sowie in fachdidaktischen Grundsätzen festhalten (vgl. dazu beispielsweise den Lehrplan für die Volksschule sowie den Lehrplan für den gymnasialen Bildungsgang bzw. Fachlehrplan Informatik des Kantons Bern). Oft widersprechen allerdings die semantisch gehaltvollen Zielformulierungen sowohl der Marginalisierung der Informatik als Ergänzungs- oder Freiwahlfach als auch der Stundenzuteilung im offiziellen Lektionsplan.
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