Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn
Rolf Arnold
Entlehrt euch!
Ausbruch aus dem Vollständigkeitswahn
ISBN Print: 978-3-0355-0459-0
ISBN E-Book: 978-3-0355-0891-8
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Inhalt
Der Anlass: Die Kompetenzkatastrophe
1 Der Mensch ist das lernfähige Tier
Im Zentrum: »The reflexible man«
Der Abschied von der Vollständigkeitsillusion
2 Der Mensch ist lernfähig, aber unbelehrbar
Von der Didaktik erster Ordnung zur Didaktik dritter Ordnung
Die Flüchtigkeit des Wissens
Bildung durch Evidenz
Exkurs: Wie wirklich ist die Evidenz?
3 Lernen folgt einer Aneignungs-, keiner Vermittlungslogik
Bildung ist angewandte Selbstreflexion
Unvermeidbare Nebenwirkungen
Independent Learning: Die Logik der Suchbewegung
4 Wir lernen von anderen, aber mit einsamen Gehirnen
Wandel findet in den Köpfen statt
Das Intransitive der Kompetenzförderung
Erleben: Persönlichkeitsbildung als emotionale Transformation
5 Lernen ist weniger Vorbereitung als vielmehr Ich-Stärkung
Entgrenzungen des Wissens
Veralterung des Wissens oder Verschiebung der Wissensformen?
Selbstkompetent, aber erschöpft?
6 Bildung ist Suchen, nicht Finden
Bildung – mehr als ein Wort
Von der Bildung zur Singularität
Die Differenzrevolution
7 Selbstlernkompetenzen sind die eigentlichen Schlüsselfähigkeiten im Wandel
Der nüchterne Blick auf das Können
Es war einmal: Der unversöhnliche Gegensatz zwischen Allgemein- und Berufsbildung
8 Wir benötigen ein neues Verständnis von dem, was Lernen ist und wie es unterstützt werden kann
Man kann viel wissen und nichts können
Die Skeptiker: Rolle rückwärts in die Vergangenheit?
9 Selbstlernen braucht anregende Arrangements, Wertschätzung, Anleitung und Begleitung
Lernbegleitung: die professionelle Funktion des Scaffolding
Lernen an komplexen Aufgabenstellungen
Chancen und Grenzen des Google-Wissens
Vollständig auf die Vollständigkeit verzichten können
10 Kompetenzentwicklung braucht die Führung zu lernenden Organisationen
Eine Frage der Haltung
Lernende Bildungsorganisationen
Jenseits des Vorbereitungsanspruchs
Vergesst mir die Fakten nicht, vertieft sie! – Wider den Ungeist des Populismus
Der Ausblick: Aufbruch ins Zeitalter des selbstorganisierten Lernens
Literatur
Der Autor
Der Anlass: Die Kompetenzkatastrophe
Der vorliegende Text ist ein Aufruf. Sein Titel »Entlehrt euch!« klingt vielleicht zu martialisch. Er mag die Leserin, den Leser auch an den Aufruf »Indignez-vouz!« (»Empört euch!«) des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel (2011) erinnern, hat damit aber inhaltlich nichts gemeinsam. Mit dessen Verve allerdings schon! Angesichts der zählebigen Traditionen, Sichtweisen und Routinen, welche die Praxis in den allermeisten Bildungseinrichtungen prägen, sind Ungeduld und Empörung angezeigt. Bildung folgt vielerorts immer noch administrativen Vorgaben, gegenüber denen die Einsichten der Lern- und Hirnforschung zur Nachhaltigkeit der Kompetenzentwicklung und zur Kraft des informellen und selbstorganisierten Lernens sich nur schwer Gehör verschaffen können.
Vereinzelt trifft man auf Veränderungs-Skeptiker und -Skeptikerinnen, deren Argumentationen aber selten über einen bildungspolitischen Fundamentalismus oder über Polemik hinausreichen. Neben theorielosen Mahnungen, dass Disziplin notwendig und machbar sei, begegnen dem bildungspolitisch interessierten Leser, der bildungspolitisch interessierten Leserin häufig Untergangsszenarien, in denen von »Dämmerungen« die Rede ist (vgl. Liessmann 2016). Deren Urheber möchten die Gefahr finsterer Zeiten heraufbeschwören und glauben die Verantwortlichen für den Verfall genau zu kennen. Sie sehen sie in den beherzten Versuchen, die Lernkulturen unserer Gesellschaft zu transformieren und an die Stelle von Belehrung professionelle Formen der Begleitung von Identitäts- und Kompetenzentwicklung zu setzen. Damit droht diesen Skeptikerinnen und Skeptikern genau das verloren zu gehen, was ihnen ein sicherer Besitz zu sein scheint: die gelingende Bildung der Nachwachsenden ebenso wie die der Erwachsenen.
Kaum geraten dabei die tatsächlichen Wirkungen der in Bildungsinstitutionen verbrachten Zeiten in den Blick. »Es ist gut, wie es war!«, lautet die restaurative Parole, deren Zynismus der interessierten Öffentlichkeit allerdings kaum verborgen bleiben kann. Zu fragen ist:
•Was bleibt uns tatsächlich von den Jahren, die wir in belehrenden und nicht selten auch kränkenden Kontexten zubringen mussten?
•Was haben wir von diesem Vermögen wegen und was entgegen diesen Kontexterfahrungen aus uns herausbilden können?
•Was verlernen wir in diesen Kontexten, und welche Ich-Stärkung und welche Selbstorganisationsfähigkeiten verpassen wir?
•Welche Konsequenzen ziehen wir aus der bildenden Kraft des Suchens und Erprobens, die uns mit bleibenden Fähigkeiten auszustatten vermag?
•Wie können Bildungsinstitutionen sich zu Räumen des Selbstlernens, der Selbstorganisation und des Kompetenzerfolges wandeln? Und:
•Wie können wir als Einzelne und als Gesellschaft die Potenziale erschließen (helfen), die in den Menschen schlummern?
Der Aufruf »Entlehrt euch!« stärkt die These, dass sich die Formen der Begegnung und Begleitung in den Bildungsinstitutionen grundlegend ändern müssen, damit den Einzelnen bessere Möglichkeiten zur eigenen Bildung oder Gestaltung des lebenslangen Lernens geboten werden können. Disziplinierung und Belehrung dürfen nicht länger die mehr oder weniger verborgenen Erfahrungskontexte bleiben, denen wir die Nachwachsenden und uns selbst aussetzen. Zu offensichtlich ist bereits der Widerspruch zwischen den Selbstorganisationserwartungen von Gesellschaft und Arbeitsmarkt und den skandalösen Vergessenseffekten, an die wir uns vielerorts gewöhnt zu haben scheinen. Ganz zu schweigen von der sozialen Selektivität des Bildungswesens. Das Faktum der sozialen Selektivität führt uns nicht vor Augen, welche Menschen in unserem Bildungssystem versagt haben, es zeigt uns vielmehr, an welchen Menschen unser Bildungssystem tagtäglich versagt – mit subtilen Mechanismen und nicht selten mit einer zynischen Umkehrung der Schuldzuweisung.
»Entlehrt euch!« beinhaltet kein eigenes Bildungsprogramm. Es schlägt keine – für alle möglichst einheitliche – neue Jugendschule vor, da solche Strukturvorschläge sich in der Vergangenheit als kaum konsensfähig in einer Gesellschaft erwiesen haben, der es oft mehr um Berechtigung als um Bildung zu gehen scheint. Die Gleichheit der Bildungschancen kann zwar durch eine verbesserte Durchlässigkeit (z. B. durch die Anerkennung beruflich erworbener Kompetenzen) zwischen den unterschiedlichen Bildungswegen gesteigert werden, Strukturreformen selbst werden aber meist in ihren möglichen Wirkungen überschätzt, denn sie gehen keineswegs automatisch mit einer größeren Wirksamkeit des Lernens selbst einher. Der vorliegende Text plädiert deshalb für eine innere – didaktische – Organisationsentwicklung der Bildungsinstitutionen. Es spricht viel dafür, dass es die Ermöglichung einer nachhaltigen Selbstbildung und die Lernkulturen sind (vgl. Arnold 2013b; 2016), von denen die für eine Kompetenzgesellschaft notwendigen Veränderungen ausgehen.
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