INHALTLebendige Seelsorge 4/2020
THEMA
Nacht-Erfahrungen
Theologie und Spiritualität einer Lebenswirklichkeit
Von Stephan Lüttich
Die Abwesenheit des Auferstandenen und der Körper des Verschwundenen
Spuren einer kenotischen Ostertheologie im Neuen Testament
Von Margareta Gruber OSF
„Nicht ohne“
Die Replik von Stephan Lüttich auf Margareta Gruber OSF
Gottsucher und Gottfinder im 21. Jahrhundert
Die Replik von Margareta Gruber OSF auf Stephan Lüttich
Praktische Theologie in einer religionslosen Welt?
Bonhoeffers Entwurf eines religionslosen Christentums als praktisch-theologischer Reflexionsmotor
Von Antonia Lüdtke
PROJEKT
Workout für die Seele
Von Eva Jung
INTERVIEW
„Lebendige Transzendenzerfahrung und geistliche Trockenheit: Diese Phänomene müssen wir neu beachten!“
Ein Gespräch mit Christoph Jacobs über den Zusammenhang von Spiritualität, Lebenszufriedenheit und Gesundheit bei Seelsorgenden
PRAXIS
Und die Moral von der Geschicht: Setz auf die Moralisierung nicht!
Von Ottmar Fuchs
Expliziter Gottesglaube in Deutschland
Empirische Zahlen und Trends
Von Gert Pickel
„Welch furchtbare Armut, ungeliebt zu sein“
Diakonie dank Gottesnacht bei Mutter Teresa von Kalkutta
Von Gotthard Fuchs
Die Nacht Gottes im Licht Gottes- und umgekehrt.
Spiritualität bei Chiara Lubich
Von Stefan Tobler
„Ein Weg zwischen zwei Abgründen“
Atheismus und Spiritualität bei Madeleine Delbrêl
Von Annette Schleinzer
FORUM
„Wir wollen’s wirklich wissen“
Qualitätsverbesserung durch Feedback Von Werner Otto und Claudius Wagemann
SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK
Licht am Horizont der Gottesnacht
Von Christiane Koch und Annett Giercke-Ungermann
Ohne Religion, aber nicht gottlos
Begegnungen in Leipzig Von Andreas Knapp
POPKULTURBEUTEL
Moral-O-Mat
Von Bernhard Spielberg
NACHLESE
Re: Lecture
Von Thomas Franz
Impressum
EDITORIALLebendige Seelsorge 4/2020
Matthias Sellmann Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserinnen und Leser,
Seelsorge lebt aus der Beziehung zu Gott. Sie eröffnet diese Beziehung, begleitet und inspiriert sie. Und sie ist zur Stelle, wenn es in der Beziehung kriselt. In der Gottesbeziehung liegt eine der wertvollsten Aufgaben und Ressourcen von Seelsorgerinnen und Seelsorgern.
Es gehört darum zur Qualitätssicherung von Pastoral, über diese Gottesbeziehung zu reflektieren – und das nicht nur individuell und persönlich. Wie zeigt sich Gott in der aktuellen Gegenwart? Und sind die kirchlichen Routinen, in die Beziehung mit ihm zu führen, auf der Höhe dieses ‚Zeigens‘?
Das Themenheft ‚Gottesnacht‘ unterstützt Sie in dieser Vergewisserung. Es bietet Ihnen eine anspruchsvolle These an: Ja, es ändert sich etwas. Gott ist immer stärker abwesend. Er will neu gesucht und neu gefunden werden. Geistliche Trockenheit ist keine Ausnahme mehr (vgl. Interview).
Im Heft finden Sie empirische Belege und theologische Argumente. Eindrücklich ist die Präsentation von vier spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Sie sind Seismografen für einen Paradigmenwechsel geistlichen Lebens. Denn alle vier bauen ihre Mystik zentral auf der Erfahrung auf, dass Gott sich zurückzieht: Dietrich Bonhoeffer, Madeleine Delbrêl, Chiara Lubich und Mutter Teresa.
Ich wünsche Ihnen, dass die Lektüre für Sie zur Chance wird, sich in Ihrer Gottesbeziehung neu zu verorten. Wir wissen es aus vielen anderen Lebensbereichen: Wachstum braucht Nächte.
Was also zeigt sich, wenn Er sich verbirgt? Was soll wachsen, was wird vergehen?
Ihr
Prof. Dr. Matthias Sellmann
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Nacht-Erfahrungen
Theologie und Spiritualität einer Lebenswirklichkeit
Angst, Schwermut und Trostlosigkeit sind Teil jedes menschlichen Lebens. Weil Gott den ganzen Menschen in seiner leibseelischen Wirklichkeit ansprechen und erlösen will, müssen diese Nacht-Erfahrungen auch eine Bedeutung für den christlichen Glauben haben. Stephan Lüttich
Die Dunkelheit der Nacht versinnbildlicht die negativ geprägte, bedrückende und bedrängende Seite menschlicher Lebenswirklichkeit. Bei der spontanen Assoziation wird die Nacht zuerst als Finsternis, als Ort des Schreckens und der Bedrohung, als Wirkungsort von unheimlichen, vielleicht kriminellen Gestalten begriffen. Das ist aber nur ein Aspekt. Die Nacht ist auch die Zeit des stärkenden Schlafes und des Vergessens, die Zeit der schutzgebenden Dunkelheit, der Bergung vor den Feinden. In ihrer Stille bietet die Nacht den Raum für die Begegnung zwischen Menschen, sei es im intensiven Gespräch oder in der erotischen Vereinigung.
Auch die Religionsgeschichte weiß um die Nacht als ambivalentes Bild. In nahezu allen Religionen ist die Nacht einerseits Wirkungsbereich bedrohlicher Dämonen und Totengeister. So kennt etwa die altägyptische Religion die Vorstellung eines Kampfes, den der Sonnengott Re Nacht für Nacht mit den Chaosmächten der Finsternis zu bestehen hat. Und die bis heute geläufige Idee der mitternächtlichen Geisterstunde oder Johann Wolfgang von Goethes klassische Schilderung der Walpurgisnacht, in der sich Hexen und Zauberer vergnügen, beziehen sich auf uralte Motive der nordischen Mythologie.
Andererseits ist die Nacht aber auch eine privilegierte Zeit für das Gebet und die Offenbarung der Gottheit. So sind die spätantiken Mysterienkulte im hellen Licht des Tages schlicht nicht vorstellbar. Auch die jüdische Bibel erzählt gerade an wichtigen Schlüsselstellen von nächtlichen Begegnungen mit Gott, die sowohl das erschreckendübermächtige als auch das vertrauensvollbergende Moment in der Gotteserfahrung des Volkes Israel zum Ausdruck bringen. Der Islam kennt diese religiöse Dimension der Nacht ebenfalls. So widmet der Koran eine ganze Sure der sogenannten „Nacht der Bestimmung“, in der Muhammad zum ersten Mal die göttliche Offenbarung empfängt.
Diese Doppeldeutigkeit der nächtlichen Dunkelheit hat sich in der Kulturgeschichte der Menschheit, in Literatur, Malerei und bildender Kunst vielfältige Ausdrucksformen geschaffen. Von den romantischen Nachtbildern Caspar David Friedrichs bis zu Edward Hoppers Ikonen moderner Nächtigkeit, vom Abschied der Liebenden in Shakespeares Romeo und Julia bis zu Arnold Schönbergs Quartett Verklärte Nacht, von den verstörenden Nacht-Gedichten Georg Trakls bis zu den erschütternden Bekenntnissen von Georges Bernanos Landpfarrer zieht sich die Beschäftigung mit der Nacht durch alle Epochen, durch alle Formen und Stilarten menschlichen Kunstschaffens.
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