Sowohl die kirchlichen als auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Feier der Liturgie haben sich in Europa grundlegend verändert. Dementsprechend rücken auch für die Liturgiewissenschaft veränderte und neue Akzente in den Vordergrund. Die Grundlagen religiöser Praxis, die Diskrepanzen zwischen der Glaubensrealität und kirchlichen Vorgaben und die Frage nach der kultur- und identitätsstiftenden Kraft der christlichen Liturgie müssen weiter thematisiert werden 65. Für die Frage nach der Zukunft des Sonntagsgottesdienstes heißt das, darzustellen, unter welchen Voraussetzungen er gefeiert wird, welche Impulse aus seiner Theologie für die christliche Identität abzuleiten sind und welche Bedeutung ihm aufgrund der gegenseitigen Einflussnahme dieser beiden Größen in Zukunft zukommen kann.
1.3 Die Arbeitsschritte
Ziel der Arbeit ist es, den Beitrag der Sonntagsliturgie für die Identität der christlichen Gemeinschaft aufzuzeigen und ihre Bedeutung für das Zusammenleben von Menschen darzustellen. Dabei sollen Erkenntnisse aus nichttheologischen Partnerdisziplinen in die liturgiewissenschaftliche Diskussion einbezogen werden. Sie können dazu beitragen, die theologische und gesellschaftliche Bedeutung des Sonntagsgottesdienstes auf dem Hintergrund der Lebensbedingungen in die Gegenwart zu übersetzen und Perspektiven für die Gestaltung gottesdienstlicher Kultur in der Zukunft zu entwickeln. Am Ende soll sichtbar werden, welche Bedeutung der Sonntag für die christliche Spiritualität besitzt und welche Perspektiven für gelingendes Leben in pluraler Gesellschaft damit verbunden sind. Dahinter steht die These, dass die Feier der Sonntagsliturgie für die christliche Gemeinschaft existenziell ist und zum Gelingen menschlichen Zusammenlebens beiträgt.
Der erste Teil der Arbeit (A) geht deskriptiv-analytisch vor. Grundlegend für die Wahrnehmung der für den Sonntagsgottesdienst bestehenden Herausforderungen ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen religiöse Praxis und Zeitkultur in der Gesellschaft heute gestaltet werden müssen. Dafür sind soziologische Erkenntnisse von Interesse (Kapitel 2). Die Diskussion über Religion innerhalb der Soziologie beschäftigte sich in den letzten Jahren v.a. mit der Frage der Säkularisierung. Die Arbeit nimmt verschiedene Stränge der Diskussion des sog. Säkularisierungsparadigmas auf. Damit wird erkennbar, welche Bedingungen und Faktoren für Religionszugehörigkeit und -praxis heute entscheidend sind. Neuere religionssoziologische Forschungen diagnostizieren veränderte Formen religiöser Praxis. Insbesondere die Analysen der religiösen Praxis der Gegenwart, die die britische Religionssoziologin Grace Davie vorgelegt hat, sind für die Liturgiewissenschaft von Interesse. Ausgangspunkt der von ihr entwickelten Konzepte ist eine differenzierte Wahrnehmung von Säkularisierung in Europa. Sie sollen deswegen vertieft dargestellt werden.
Ein Blick auf Veränderungen kultureller und sozialer Zeitrhythmen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ebenso unverzichtbar. Das betrifft das Zueinander von Wochenende und Freizeit, weil der Sonntag oft als Teil des Wochenendes gedeutet wird; seine christliche Bedeutung wird nur von einem gewissen Teil der Bevölkerung geteilt. Das schließt eine kurze Darstellung der vielfältigen außerkirchlichen gesellschaftlichen Assoziationen, mit denen der Sonntag besetzt sein kann, ein. Sie sollen helfen, Entsprechungen außerkirchlichergesellschaftlicher Sonntagsbedeutungen mit kirchlichen Bedeutungsbesetzungen aufzuzeigen. Möglicherweise gibt es Übereinstimmungen, die kirchlicherseits deutlicher artikuliert werden müssen, um auch von Fernstehenden gesehen zu werden.
Ferner ist ein kritischer Umgang mit zeitstrukturellen Veränderungen notwendig. Hier liefern die präzisen Analysen des Soziologen Hartmut Rosa wichtige Erkenntnisse für die liturgiewissenschaftliche Reflexion, weil die Theorie der Beschleunigung aller Lebensbereiche große Herausforderungen für die Lebensgestaltung bedeutet, die sich auch auf den Gottesdienst auswirken.
Diesem ersten diagnostischen Teil schließt sich der Blick auf das kirchliche Verständnis des Sonntags an (B). Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Frage, wie sich die katholische Kirche zum Sonntag im Spannungsfeld von kirchlicher Lehre, Theologie und Gesellschaft äußert. Exemplarisch wurden hier drei verschiedene Ebenen ausgewählt. Mehrere kirchliche Verlautbarungen haben sich in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Kontexten mit dem Thema Sonntag und Sonntagsgottesdienst beschäftigt. In ihnen wird auch nach dem Verständnis des darin dargestellten Zusammenhangs von Christentum und Kultur gefragt, um den Sonntag nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. Die Verlautbarungen sind einerseits Medien binnenkirchlicher Kommunikation und dienen der Selbstvergewisserung, können aber andererseits als Versuch verstanden werden, auf drängende kirchliche und gesellschaftliche Probleme zu reagieren. Die darin erkennbaren Argumentationen folgen theologischen Prämissen und kirchlichen Interessen. Die in den Verlautbarungen formulierten Zuschreibungen sind in gewisser Weise normativ für die katholische Kirche.
Von dieser textanalytischen Ebene ausgehend werden zwei Beispiele kirchlichen Engagements für den Sonntag vorgestellt, die sich an unterschiedliche Adressaten richten und unterschiedliche Ziele verfolgen: die Aktionen des „Bonifatiuswerks der deutschen Katholiken e.V.“, die auf eine innerkirchliche Stabilisierung der Sonntagskultur abzielen und die kirchliche Mitwirkung bei den „Allianzen für den freien Sonntag“, die sich für die politische Garantie des arbeitsfreien Sonntags in Europa einsetzen. Auf einer dritten Ebene wird dann schließlich das liturgische Phänomen der „Zwecksonntage“ untersucht, bei denen sich gesellschaftliche Umstände konkret auf die Feier der Liturgie auswirken. Diese Gottesdienste sind liturgiewissenschaftlich mehrheitlich negativ beurteilt worden. Diese Diskussion soll hier berücksichtigt werden. Das Interesse richtet sich hier aber auf den Zusammenhang von Lebenswelt und liturgischer Feier unter gegenwärtigen Voraussetzungen.
Der dritte Hauptteil (C) widmet sich dem theologischen Kern des Sonntags und setzt sich mithilfe verschiedener Zugangsweisen mit der Rolle des Sonntagsgottesdienstes für die christliche Identität auseinander. Zunächst wird ein liturgiegeschichtlicher Zugang gewählt (Kapitel 4). Es wird dargestellt, unter welchen Schwerpunktsetzungen die Vertreter der Liturgischen Bewegung den Sonntag liturgietheologisch neu zu fassen versuchten und welchen Beitrag des Sonntags für die christliche Spiritualität sie daraus ableiteten. Die von der Liturgischen Bewegung vorgenommenen Neuakzentuierungen wurden durch die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgenommen. Diese reformulierte den Sonntag als „Tag des Herrn“ und wies ihm damit wieder die zentrale Rolle im Kirchenjahr zu. Die entscheidenden Aussagen des Konzils werden in ihrer Bedeutung für den Sonntagsgottesdienst besprochen 66.
Der zweite Zugang ist kulturtheoretischer Art. In den vergangen Jahren erfahren kulturwissenschaftliche Erkenntnisse breite theologische Rezeption. Ein besonders fruchtbares Konzept liegt mit der Theorie des kulturellen Gedächtnisses nach Jan Assmann vor. Hier soll dargestellt werden, inwiefern Sonntagsliturgie als Medium des kulturellen Gedächtnisses verstanden werden kann und welchen Beitrag sie damit zur Kultur von Gesellschaften leisten kann (Kapitel 5).
Der dritte Zugang erfolgt heortologisch (Kapitel 6). In der Arbeit wird davon ausgegangen, dass Feste Rahmen, Erzählungen und Orte symbolischer Kommunikation sind und Identität prägen. Das gilt auch, obwohl nur ein Teil der Europäer Christen ist oder diesem Kalender zur Gänze folgt 67. Christliche Feste leben von der liturgischen Feier, für die Erinnerung eine zentrale Kategorie ist, in ihnen entsteht Gemeinschaft und wird gefeiert 68. Christliche Festkultur in Westeuropa gestaltet sich heute dabei sehr komplex. Das Gottesdienstverhalten variiert in den Gesellschaften, in nahezu allen europäischen Ländern sind Traditionsumbrüche zu erkennen 69. Hier werden klassische Zugänge zum Fest dargestellt und auf Entsprechungen im christlichen Fest am Beispiel des Sonntags hin überprüft. Zentral ist dabei die Frage, inwiefern der Sonntagsgottesdienst unter heutigen Voraussetzungen als sinn- und orientierungsstiftende Glaubensfeier zu verstehen ist.
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