»Sie ist Ihre Mutter. Ich denke, das übertrifft jeglichen Einfluss, den ich auf sie haben könnte.«
Arthur schnaubte. »Wenn Sie das denken, sind Sie verdammt noch mal bescheuerter, als ich dachte.«
Gabriels Lippen bildeten eine schmale Linie, als er sich über den Tisch beugte. »Ich würde es Ihnen danken, wenn Sie keine derartig profane Sprache in der Bibliothek benutzen könnten. Es sind Kinder anwesend und da Sie praktisch ein lebendes Megafon sind, erreicht Ihre schändliche Ausdrucksweise mit Leichtigkeit junge, beeinflussbare Ohren.«
Arthurs eigene Ohren wurden heiß. Er wand sich und starrte auf die Tischplatte. »Entschuldigung.«
Die Haltung des Bibliothekars lockerte sich, auch wenn er sich nicht wirklich entspannte, aber er wirkte nicht mehr so steif und voreingenommen wie zuvor. »Für mich war es anfangs auch schwierig. Sie hören alles, was wir sagen, auch wenn es nicht an sie gerichtet ist.«
Arthur wollte Gabriel gerade von Thomas erzählen und dass er wusste, dass Kinder wie Schwämme alle möglichen Dinge aufsogen, doch dann wurde die Tür des Konferenzraums geöffnet und ein blonder, kleiner Junge, der etwas über einen halben Meter groß war, steckte mit großen Augen seinen Kopf in den Raum. »Mr. Higgins? Ist schon Vorlesestunde?«
Eine genauso blonde, verlegen errötende Mutter hob das Kind hoch. »Es tut mir so leid«, sagte sie zu Gabriel. »Er ist mir entwischt.«
»Ist schon in Ordnung, Julie.« Gabriel hatte die Mutter angelächelt, aber als er den Jungen ansprach, hockte er sich hin und hielt ihm seine Hände entgegen. Sein gesamtes Verhalten änderte sich und die Art, wie sich sein Gesicht lebhaft und fröhlich aufhellte, ließ Arthurs Atem für einen Moment aussetzen. »Noah, ich bin so froh, dass du heute da bist. Ich muss noch meine Unterhaltung mit Mr. Anderson beenden, aber ja, dann lesen wir zusammen Geschichten.«
Noah wippte auf seinen Fersen. Der Junge legte seine winzigen Hände in Gabriels und hielt ihn fest, als wäre der Bibliothekar ein Anker seiner Freude. »Können wir Doktor Entlein lesen, bitte, Mr. Higgins?«
»Es tut mir so leid, Kleiner, aber das Buch ist nicht hier. Weißt du noch, ich musste es von einer anderen Bibliothek ausleihen und letzte Woche wollten sie es wiederhaben.«
Es schmerzte Arthur körperlich, den Jungen zusammensacken zu sehen. »Aber ich liebe Doktor Entlein.«
»Ich weiß und ich wünschte, ich könnte ihn dir geben. Aber wir hatten es im letzten Monat und jetzt müssen wir warten, bis wir wieder an der Reihe sind.«
Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen und seine Mutter war erneut beschämt. Gabriel beschwichtigte sie und den Jungen mit hohlen Phrasen und substanzlosen Irgendwann-Versprechen. Alles, woran Arthur denken konnte, war, dass das wohl am Finanzierungsproblem liegen musste. Wenn die Bibliothek ein ordentliches Budget hätte, würde Gabriel das verdammte Buch bis zum Abwinken für den Jungen bestellen können.
Wenn das hier ein schicker Vorort gewesen wäre statt einer sterbenden Kleinstadt, hätte die Mutter das Buch schon vor langer Zeit für ihr Kind bestellen können. Vielleicht konnten einige Leute in Logan das sogar, aber Arthur kannte Julie Peters. Ihr Mann fuhr für das Sägewerk Lastwagen und war dementsprechend jetzt auch zeitweise arbeitslos. Sie hatten vier Kinder und ihre außerhäusliche Arbeit reichte nicht für die Kinderbetreuung aus, wenn sie die Stadt nicht verließ. Für Doktor Entlein-Bücher war kein Geld übrig. So wie die Dinge lagen, brachte Weihnachten die beiden wahrscheinlich schon ziemlich ins Schwitzen.
Die Mutter und ihr Kind verließen den Raum und Gabriel wandte sich Arthur zu. »Es tut mir leid, aber wie es scheint, beginnt die Vorlesestunde heute etwas früher. Ich kann Ihnen mit Ihrer Mutter nicht helfen, aber kurz gesagt stimme ich zu, dass das Schlittenprojekt ein gut gemeinter Plan ist, der aber wahrscheinlich nicht die Finanzmittel einbringen wird, die die Bibliothek braucht. Was uns am meisten weiterhelfen würde, ist ein Zuschuss, für den ich bereits einen Antrag gestellt habe, doch die sind heutzutage hart umkämpft und werden immer seltener. Mir ist es egal, wenn Sie sich aus der Benefizveranstaltung zurückziehen – ich bin mir sicher, dass wir keine Probleme haben werden, einen Ersatzweihnachtsmann zu finden –, aber Sie werden sich selbst aus der Sache herausziehen müssen. Einen schönen Tag noch.«
Arthur beobachtete, wie der Kerl wegging. Er wollte etwas einwenden, wusste aber nicht wirklich, was. Er war entlassen worden, doch er konnte sich nicht zum Gehen bewegen, weil er wusste, dass er den Weihnachtsmann tatsächlich spielen musste, wenn er es tat.
Und so nahm Arthur zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren wieder an der Vorlesestunde in der öffentlichen Bibliothek in Logan teil.
Mit dem Rücken an der Wand lungerte er in der hintersten Ecke des Raums herum, nahezu in Gabriels Büro. Die Arme vor der Brust verschränkt, richtete er sich darauf ein, zuzusehen und zu warten. Der Saal war überraschend voll. Die Kinder saßen alle im vorderen Bereich in einem breiten Halbkreis um Gabriels Schaukelstuhl versammelt. Einige Mütter saßen bei ihren Kindern, aber andernfalls waren die Eltern und Großeltern sitzend und stehend im hinteren Teil des Raums verstreut. Einige Kinder stritten sich untereinander. Die Eltern in der Nähe waren zu sehr damit beschäftigt zu tratschen, als den Streit zu schlichten. Ein Vater bändigte ein widerspenstiges, junges Zwillingspaar und trieb sie beständig wie ein müder Schiedsrichter in den Kreis hinein. In der ersten Reihe beschwerte sich ein kleines Mädchen lautstark bei niemand Bestimmtem, dass ihre Unterwäsche kratzte und sie sie ausziehen wollte.
Als Gabriel jedoch zu lesen begann, wurde es sofort still im Saal und jeder hörte zu.
Auch Arthur.
Die Geschichte war die über eine Maus und einen Keks, die Arthur schon einmal gehört hatte, als seine Schwester sie ihren Kindern vorgelesen hatte.
Sie war ihm also bekannt, aber die Art, wie Gabriel sie laut vorlas, ließ sie wie die verdammt beste Geschichte der Welt wirken. Mehrere Male ertappte er sich beim Lächeln und zweimal lachte er laut los. Genauso wie alle anderen.
Als die Geschichte zu Ende war, überkam ihn Enttäuschung, bis Gabriel ein zweites Buch in die Hand nahm. Dieses – Kuschelwelpe – kannte er noch nicht, eins dieser brettähnlichen Dinger, an denen die kleine Sue immer in der Kirche kaute und mit denen Brianna Thomas schlug.
Gottverdammt, aber es war trotzdem süß. Es traf ihn ins Herz, wenn Gabriel sich den Kindern zuwandte und ihnen lächelnd, liebevoll und fröhlich in die Augen sah, während er sie im Chor durch die offensichtlichen Lieblingszeilen der Geschichte führte.
Es folgte ein weiteres Buch und dann noch eins. Arthur blieb bei allen und hörte zu.
Und dachte nach.
Als es vorbei war, drängten sich die Kinder um Gabriel und stellten ihm Millionen von Fragen gleichzeitig: ob er ein bestimmtes Buch hatte, ob er mit ihnen in den Park gehen würde, ob er ihren Pullover richten konnte, ob er wusste, dass der T-Rex ein großer, gemeiner Dinosaurier war, der Menschen fraß. Der Ansturm glich einem Schnellfeuer, das Arthur beunruhigte, und er sah sich wütend nach den Eltern um, die Gabriel nicht zu Hilfe eilten. Einige von ihnen schritten ein, doch selbst als die anderen weiter tratschten oder die Decke betrachteten, wusste Gabriel sich ganz gut selbst zu helfen. Er legte Bücher in Kinderhände, zeigte einem Kind, wo die Toilette war, bewunderte Plüschtiere und Spielzeug und richtete den Pullover. Nicht einen Moment lang hörte er auf zu lächeln.
Während einer verrückten halben Sekunde wünschte Arthur sich, wieder klein zu sein, sodass er auch zu Mr. Higgins hätte tapsen und sich von ihm hätte berühren lassen können.
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