1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Das setzt voraus, dass uns Deutungshilfen verfügbar sind, durch welche im Wahrgenommenen das Gemeinsame und zugleich davon Unterscheidbare gesehen werden kann. Aus den verschiedenen graphischen Elementen erkenne ich eine Gestalt. Die Geräusche und das Stimmengewirr in einer Straßenbahn hindern nicht, das „Guten Morgen“ eines Arbeitskollegen zu erkennen, weil beide gemeinsam am Morgen zur Arbeit fahren.
Wir sind ständig zum Handeln herausgefordert und können eigentlich gar nicht anders, als stets das, was uns umgibt, sofort „aufzuräumen“, ohne uns dessen bewusst zu sein, was wir genau tun. Dies wird immer wieder zum Problem unserer Alltagskommunikation werden, weil wir uns sehr schwer tun, anders zu denken, als wir es gewohnt sind. Eigentlich müssten wir immer auch die Möglichkeit des Anders-Denkens im Blick behalten, wenn wir mit einem Anderen kommunizieren. Denn er kann ja nur mit uns kommunikativ im Kontakt bleiben, wenn er mit der Umwelt so umgeht wie wir. In der Regel begnügen wir uns aber mit der Annahme, der Andere denke schon wie wir.
Erklärung
Um Kommunikation verorten zu können, brauchen die Akteure Daten aus ihrer Umwelt. Diese werden für sie räumlich und sozial sichtbar. Wollen sie miteinander kommunizieren, setzt das ein Gegenüber voraus, das möglichst auf dieselben Daten zugreift, wenn diese angesprochen werden, und sie auf eine möglichst ähnliche Weise sieht und verarbeitet. Je größer die Ähnlichkeit der Sichtweise und der Bearbeitung dieser Daten ist, umso wahrscheinlicher wird eine Kommunikation zwischen den Anwesenden und die Chance wächst, miteinander über dasselbe reden zu können.
Kommunikation setzt Ordnung voraus
Dinge, die wir tun, sind niemals völlig identisch, wenn wir sie wiederholen. Typisch dafür ist die gesprochene Sprache. Ein und derselbe Satz, den wir mehrmals vorlesen, klingt jedes Mal etwas anders. Trotzdem würden wir den Inhalt des Satzes als identisch bezeichnen. Das kann sich ändern, wenn wir Phrasen im Satz anders betonen. Durch das Verschieben des Satzakzentes können wir etwas, was als Aussage formuliert ist, in eine Frage umwandeln. Es gibt somit eine Varianz.
OrdnungenVarietätenDer Umgang mit Varianz ist im Alltag etwas ganz Normales. Sie ist unproblematisch, wenn Regeln dafür sorgen, dass Überschreitungen dieser Varianz erkennbar sind. In der Phonologie ist z.B. das folgende Phänomen zu beobachten: Aus /bo:d ən/ wird, wenn die Rundung im /o/ zu schwach wird, /ba:d ən/, und das ist ein Wort mit einer ganz anderen Bedeutung. Wenn die Wortbedeutung eine andere wird, ist die Varianzgrenzeüberschritten.
Pragmatisch kann aus einer Aussage, deren Merkmal der Satzakzent auf der zweiten Phrase ist, eine andere Sprechhandlung werden, wenn die letzte Phrase betont wird. Aus der Aussage wird eine Frage, und dies ist eine andere sprachliche Handlung. Die ProsodieProsodie stellt weitere Mittel zur Verfügung, um das pragmatische Potenzial auszudifferenzieren. Bei gleicher morphosyntaktischer Struktur kann die gleiche Satzphrase als Bitte oder Warnung wahrgenommen werden, wenn eine bestimmte Stimmführung beobachtet wird. Phrasenteile können mit Nachdruck gesprochen werden und verweisen dadurch auf einen Unterschied gegenüber der normalen Stimmführung. Auch diese Abweichung ist nutzbar, um eine andere Handlung anzuzeigen. Die SprechakttheorieSprechakttheorie, wie sie von Austin (1962) und Searle (1971) entwickelt worden ist, hat versucht, Regeln zu formulieren, die das Erkennen solcher Varianzklassenerleichtern, indem sie Gebrauchsumstände benennen.Searle Austin, John L.
VarietätenDer Umgang mit Varianzen wird sicherer, wenn es hinreichend stabile Erwartungen gibt. Sie stehen im Zusammenhang mit den zur Verfügung stehenden Bezugsgrößen. Wenn es um das phonologische Wissen geht, kann aus dem /a/ ein /o/ herausgehört werden, weil in der Situation gerade nicht von Wasser die Rede ist, sondern über Pflanzen gesprochen wird. Das Wort „baden“ ist dann eher unwahrscheinlich, während sich „Boden“ mit dem Konzept „grüner Daumen“ verträgt.
Wenn der Erzählton in einer Situation verlassen wird, der typisch für das Erzählen einer Alltagsepisode ist, kommt es im Hinblick auf den Phrasenakzent und die Stimmführung zu einer Äußerungsvarianz. Sie kann unter dem Aspekt von Appellgesten geprüft werden. Der Sprecher ist mit seiner Geschichte am Ende und nun kann der Andere seine vortragen oder beide verabschieden sich und leiten die Verabschiedungsgeste ein. Im Rahmen des Erfahrungswissens über das gemeinsame sprachliche Handeln wird geprüft, in welchem Sinne die aufgetretene Varianz genutzt werden kann. Um kommunizieren zu können, sind daher Annahmen über Ordnungen nötig, die gemeinsame Verhaltensweisen voraussehbar machen und regeln.
01 F |
Ist es schon eins? |
02 A |
SCHAUT AUF SEINE UHR vier vor eins. |
Sprachhandlung: nach der Uhrzeit fragenSprachhandlungUhrzeit erfragen |
Es liegen sprachliche Daten vor, die sich, bezogen auf ein linguistisches Bezugssystem, als Fragesatz und Antwortphrase identifizieren lassen. „Ist es schon eins?“ ist ein Fragesatz, „vier vor eins!“ eine Antwortphrase auf den Fragesatz. Die linguistische Ordnung besagt, dass laut Regel durch das Besetzen der Erstposition im Satz mit einem Verb eine Frageform erzeugt werden kann. Ist ist das Verb und steht an der ersten Position im Satz. Das Erfragte kann durch eine nominale Phrase sprachlich kodiert werden. Das geschieht mit der Formulierung vier vor eins . Die sprachlichen Daten zielen nun aber nicht nur auf die grammatische Ordnung des Deutschen ab. Diese wird implizit als wirksam unterstellt. Das Arrangieren der Daten nach den Regeln eines Fragesatzes folgt einem weiteren Bezugssystem. Der Fragende erwartet von dem Angesprochenen eine Antworthandlung. Das kann nur gelingen, wenn die sprachliche Ordnung dem Gefragten zur Verfügung steht. Diese allein reicht aber nicht aus, wenn er nicht auch über eine Ordnung von Sprechhandlungen Bescheid weiß.
Ein in Frageform codierter sprachlicher Ausdruck kann auf die Sprachhandlung eines Informationswunsches abzielen. Der Angesprochene muss daher Kenntnisse über Konventionen haben, die ihm erklären, dass Daten genutzt werden können, um ein Informationsdefizit des Sprechers zu beseitigen, wenn der Gefragte über entsprechendes Wissen verfügt. Kann er auf dieses Wissen zurückgreifen, weil er eine Uhr mit sich führt, muss er auf diese schauen und ihre Anzeige erkennen können, außerdem muss er die sprachlichen Regeln kennen, um die Daten gemäß dieser Ordnung zu strukturieren.
Der Umgang mit einer Sprachhandlung folgt aber nicht nur pragmatischen Ordnungen, die zu regeln versuchen, wie linguistische Daten einsetzbar sind, um Handlungseffekte zu erzielen. Die Daten werden in einen Raum der Interaktion von Individuen gestellt. Ein solcher existiert, weil es im physikalischen Raum Individuen gibt, die sich gemäß den von ihnen tolerierten sozialen Ordnungen miteinander arrangieren. Im vorliegenden Fall begegnen sich zwei Personen auf der Straße, einer geht auf den Anderen zu, spricht ihn an und erwartet eine Antwort. Das kann nur funktionieren, wenn es einen Bezugshintergrund gibt, der beiden hinreichend Hinweise darauf bietet, was sie tun können bzw. müssen und wie alles weitere zu deuten ist. Im konkreten Beispiel können sich die Individuen, die im öffentlichen Raum aufeinandertreffen, an der „Ordnung“ einen Fremden nach der Uhrzeit fragen orientieren. Denn für solche Situationen gibt es in unserem Kulturkreis gewisse Konventionen.
Feste Gebrauchsformate im öffentlichen RaumKontextinstitutionellJemand Fremden nach der Uhrzeit zu fragen, ist im Alltag nichts Ungewöhnliches. So kann erwartet werden, dass es dafür auch ein entsprechendes Format gibt, das allgemein bekannt ist. Die in einer solchen Situation verwendbaren Formen werden allerdings konkret von den jeweiligen Umständen beeinflusst. Dabei kommt der Örtlichkeit eine besondere Rolle zu. Wenn zum Beispiel der Raum Schule und dort die Pausenhalle betrachtet wird, so handelt es sich um eine Örtlichkeit, wo zwar sehr viele Personen ein- und ausgehen, sich aber anders als auf einem Marktplatz viele gegenseitig kennen, wenn es Schüler und Lehrer sind. Wie sie sich in einem solchen Raum verhalten, ist daher bis zu einem gewissen Grad abschätzbar. Würde hingegen auf einem Markt nach der Uhrzeit gefragt, muss eine gänzlich fremde Person angesprochen werden und dieser Vorgang ist mit Formen verbunden, die den sozialen Umgang miteinander bewusster in den Blick rücken. Mit einem Fremden in KontaktKooperation zu treten, erfordert ein weiterreichendes Wissen über mögliche Ausdrucksformen von Personen; wie sich der Angesprochene verhalten wird, ist weniger vorhersehbar als in der bekannten Umgebung Schule. Es ist auf alle Fälle mit einer größeren Varianz im Verhalten der Personen zu rechnen und die verschiedenen Formen müssen auf ihre kommunikative Tauglichkeit hin eingeschätzt werden. Das setzt eine breitere Kompetenz im Umgang mit anderen voraus, wenn diese für eine Kooperation gewonnen werden sollen.
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