So wird auch der menschliche Körper und dessen Altern (das eher als lebenslanges Zur-Muschel-Werden begriffen wird) in den weltweiten Prozess – im zitieren Passus ist gar von der FdG ‚Kosmos‘ die Rede – eingebunden. Körper und GanzheitGanzheit werden im Laufe des menschlichen Lebens zunehmend ‚identischer‘, bis der Unterschied Körper/Ganzheit völlig hinfällig geworden ist:
Im Alter nämlich wird die Versteinerung des Menschen am deutlichsten sichtbar: Seine Haut wird spröde, die Haare brechen, die Adern, das Herz, das Gehirn verkalken, der Rücken krümmt sich, die ganze Gestalt biegt sich und wölbt sich, der inneren Struktur der Muschel folgend, und schließlich fällt er in die Grube als ein jämmerlicher Trümmerhaufen von Muschelstein. Und selbst damit ist es noch nicht zu Ende. Denn der Regen fällt, die Tropfen dringen ein ins Erdreich, und das Wasser zernagt und zerkleinert ihn in winzige Teile, die es hinabträgt zur Muschelschicht, wo er dann in Form der bekannten Steinmuscheln seine letzte Ruhe findet. (61f.)
Hier findet ein Übergang statt, von einer Relation der Ähnlichkeit zwischen menschlichem Körper und Muschel, die über die Krümmung des menschlichen Körpers im Alter („der Gestalt der Muschel folgend“) zum Bild gebracht wird, hin zu einer Beziehung, die sich, über den Prozess der mineralischen Auswaschung, als Identität von Mensch und Muschelsubstanz darstellt. Im weiteren Verlauf jedoch erscheint die Vermuschelung damit als fortschreitende Eins machung. Ihren Höhepunkt finden die Überlegungen zum Verhältnis zwischen Muschel und Welt in einer apokalyptischen Vision des Protagonisten, in der nicht mehr im Plural von Muscheln oder von Muschelsubstanz gesprochen wird:
Ich wurde aus meinem Garten weggetragen in das Dunkle. Ich wußte nicht, wo ich mich befand, ich war nur umgeben von der Dunkelheit und von merkwürdigen gurgelnden und rauschenden Geräuschen. Diese beiden Geräuschgruppen – das wäßrige Rauschen und das steinige Knirschen – schienen mir in dem Augenblick als Schöpfungsgeräusche der Welt, wenn ich so sagen darf. Ich hatte Angst. Als die Angst am stärksten war, fiel ich abwärts, die Geräusche entfernten sich, dann fiel ich aus der Dunkelheit heraus. Mit einem Mal war ich von so viel Licht umgeben, daß ich glaubte, blind zu werden. Ich fiel weiter im Licht und entfernte mich von dem dunklen Ort, den ich jetzt als ungeheure schwarze Masse über mir erkannte. Je weiter ich fiel, desto mehr erkannte ich von der Masse und desto größer wurden ihre Ausmaße. Schließlich wußte ich, daß die schwarze Masse über mir eine Muschel war. Da spaltete sich die Masse in zwei Teile, öffnete ihre schwarzen Flügel wie ein gigantischer Vogel, riß die beiden Muschelschalen auf über das ganze Weltall und senkte sich herab über mich, über die Welt, über alles was ist und über das Licht und schloß sich darüber. Und es wurde endgültig Nacht, und das einzige, was es noch gab, war das Geräusch des Mahlens und Rauschens. Der Gärtner fand mich auf dem Kiesweg liegen. (66f.)
Mussard meint, aus einem Innenraum herauszufallen, und so, durch diese Bewegung, eine GanzheitGanzheit, die sich als die „Urmuschel“ erweist, von außen, einem archimedischen Blickpunkt, sehen zu können.1 Der Erzähler sieht nun nicht länger Gestein, das substantiell identisch ist mit all den Muscheln, oder Körper, die zu Stein werden, sondern er „wußte […], daß die schwarze Masse […] eine Muschel war“ (Hervorhebung T.E.). Grammatikalisch kommt es zu einer Singularisierung von ‚Muschel‘. In einem zweiten Schritt verschlingt die Muschel das „Weltall“ – im Übrigen die einzige Verwendung der FdG ‚Weltall‘ in diesem Text, durch die betont wird, dass diesmal wirklich die ‚totale Ganzheit‘ betroffen ist, und nicht etwa ‚nur‘ die Erde, der Mond, oder das Sonnensystem. Das Weltall wird in einer Schreckensvision von einer Muschel verschlungen.
Die Kraft, die alles Leben in ihren Bann schlägt und alles Ende herbeiführt, der höchste Wille, der das UniversumUniversum (Figur der Ganzheit) beherrscht und es zur Vermuschelung als Zeichen der eigenen Omnipräsenz und Omnipotenz zwingt, geht aus von der großen Urmuschel, aus deren Innern ich für kurze Zeit entlassen war, um ihre Größe und furchtbare Herrlichkeit zu schauen. Was ich gesehen habe, war die Vision des Weltendes. Wenn die Vermuschelung der Welt so weit gediehen ist, daß jedermann die Macht der Muschel erkennen muß, wenn die Menschen, der Hilflosigkeit und dem Entsetzen preisgegeben, zu ihren verschiedenen Göttern schreien und sie um Hilfe und Erlösung anflehen, dann wird als einzige Antwort die große Muschel ihre Flügel öffnen und sie über der Welt schließen und sie zermahlen. (68f.)
Es ist hier nur noch eine Muschel, welche die „Welt“ verschlingt, womit diese nicht länger aus unzähligen Muscheln oder „substantiell“ (s.o.) aus Muschelgestein besteht. Stattdessen wird die „Welt“ ausgelöscht, und was bleibt ist die Ein s heitEinsheit (Unicity) der einen Muschel. Die unterschiedlichen FdG, die im zitierten Passus – und im übrigen Text – ihren Auftritt haben, werden von der einen Muschel verdrängt, die an ihre Stelle tritt. Hier lässt sich also eine weitere Nuance in die bereits besprochene Unterscheidung zwischen EinheitEinheit und Ein s heit eintragen (vgl. II.1.4). Einheit setzt strukturell stets Vielheit voraus, welche als Einheit wahrgenommen/dargestellt wird; Einheit verdrängt Vielheit nicht notwendig. Süskinds Text hingegen inszeniert die Beseitigung von Vielheit zugunsten eines einzelnen Gegenstandes, der Muschel, der an die Stelle der Vielheit tritt, und dessen Eins-Sein stiftet.
Der Prozess der Vermuschelung stellt, so die Deutung, die hier an den Text herangetragen werden soll, die Kompression der GanzheitGanzheit als radikale Verein s heitlichung dar. Die von Mussard gegebene Beschreibung der hauchdünn von Erdboden überzogenen Ganzheit der Erde, die im Kern schon Muschel ist, wird so als wahnhafte Momentaufnahme des Fortschreitens der Kompression lesbar, einer paranoiden oneworldedness (vgl. II.2.2), die die Ganzheit auf eine Muschel reduziert. Unter dieser Perspektive entwickelt der Text einen als materiell inszenierten globalen Zusammenhang, der in scharfem Kontrast steht zu den üblicherweise dezidiert nicht- stofflichen Metaphern und Bildern, die zur Illustration von Fernwirkungszusammenhängen herangezogen werden. So spricht man in der Globalisierungstheorie eher davon, dass alle Ereignisse auf der Erde globale Echos 2 nach sich ziehen; Peter Sloterdijk spricht (allerdings für das 20. Jahrhundert) noch abstrakter von „Transaktionen“ die noch aus weiter „Ferne“ die „Gegenspieler in Mitleidenschaft“ ( Sphären II 824) ziehen. Im Kontrast zu diesen Beschreibungen also erweist sich die Kompression in Süskinds Text als ein Prozess, der Ein s heitEinsheit (Unicity) (in der extremsten Form) als substantiell verstandene Identität aller Stoffe inszeniert.
Mit einiger Verzweiflung wirft der Erzähler schließlich die Frage auf: Was bleibt? – und stößt den Leser damit auf die an die Körperthematik stets untrennbar gebundene Frage nach der SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper):
Wie sollte ich dich trösten? Soll ich von der Unzerstörbarkeit deiner SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper), von der Gnade des barmherzigen Gottes, von der Auferstehung des Leibes faseln wie die Philosophen und Propheten? […] Wozu lügen? (69)
Die Frage nach der SeeleSeele (im Verhältnis zum Körper) wird auch am Ende des Textes, welches als „ Nachschrift Claude Manets, des Dieners des Herrn Mussard “ (70) Gestalt annimmt, aufgegriffen. Nach der Beschreibung des Umstandes, dass man dem Herrn Mussard einen „rechtwinklingen Sarg zimmern“ lassen musste, da „mein Herr auch nach Ablauf der üblichen Todesstarre seine versteifte Haltung nicht aufgeben wollte“, schreibt Manet: „Gott sei seiner Seele gnädig!“ (70) und ‚faselt‘ damit von eben jener Seele, von der Mussard – angesichts der Vermuschelung der Welt – keine Lügen erzählen wollte. Die Seele – mit wenigen Ausnahmen in den meisten Vorstellungen vom Körper als nicht -stofflich verstanden –3 wird also von Süskinds Text verabschiedet, da sie nicht in die materiell gedachte ‚Vermuschelung‘ passt. So fällt der Einebnung von Unterschieden – wie die Behauptung der ‚substantiellen‘ Identität sämtlicher Stoffe sie mit sich bringt – zuletzt auch die Seele zum Opfer, die als Nicht-Substantielles in der substantiellen Ein s heitEinsheit (Unicity) der ‚Muschel-Welt‘ keinen Platz hat.
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