Thomas Erthel
Welt als Körper
Die Darstellung von Ganzheit bei Swift, Voltaire und Melville
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-7720-8662-5 (Print)
ISBN 978-3-7720-0103-1 (ePub)
Für S.
Wissenschaftliche Arbeit findet nicht im Vakuum eines Elfenbeinturms statt, sondern sie produziert stattdessen äußerst konkrete Probleme und Aufgaben, deren Bewältigung mir ohne die Hilfe von großzügigen Menschen, die mir ihre Gesellschaft, Zeit und Unterstützung geschenkt haben, unmöglich gewesen wäre. Mein persönlicher Dank dafür gilt Peter, Tobias, Nora, Petra, Valentin, Philipp, Brigitte Rath, Agatha, meinen Eltern Mira und Klaus, Daniel, Emidio und Sema.
Das Schreiben meiner Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde durch ein dreijähriges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ gefördert. Nicht zuletzt aus den Gliedern des Gemeinschaftskörpers dieses Kollegs – Doktoranden, Professoren, Assoziierten und Gästen – ging der hiesige Text hervor. Besonders hervorzuheben ist Prof. Dr. Robert Stockhammer, der meine Forschung von Beginn an geprägt und mich als Erstbetreuer stets hervorragend unterstützt hat; für das stets freundliche und konstruktive Input meines Zweitbetreuers Prof. Dr. Jörg Dünne bin ich ebenfalls sehr dankbar.
Der Druck meiner Dissertation wurde durch das DFG-Graduiertenkolleg „Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung“ und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften durch großzügigen Druckkostenzuschuss finanziert. Hierfür bin ich äußerst dankbar. Meinem Verlagslektor Tillmann Bub gilt mein Dank für seine immer zuverlässige Unterstützung im Zuge des Publikationsprozesses dieses Buchs.
I Einleitung: „The meaning of the figure is undecidable“
Wie wird GanzheitGanzheit in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts dargestellt? Um dieser Frage nachzugehen, wird hier auf Wörter wie ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc.,1 die größere Ganzheiten evozieren, fokussiert, und die literarische Arbeit an diesen Termini analysiert. Im Anschluss an bereits vorliegende Ansätze werden diese Wörter unter dem Überbegriff ‚Figuren der Ganzheit‘2 – im Folgenden: FdG – zusammengefasst. In Antwort auf die Ausgangsfrage vertritt meine Studie die These, dass die untersuchten literarischen Texte die Bedeutung(en) von FdG aktiv bearbeiten, indem sie die Inszenierung menschlicher und tierischer Körper mit der Darstellung von Ganzheit verschränken . D.h. die literarischen Texte führen die Nennung von FdG mit der Darstellung von Körpern eng und manipulieren im Zuge dessen die Bedeutung(en) der FdG. Im Folgenden werden kanonische Texte der westlichen Literatur in den Blick genommen: Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (1726), Voltaires Candide ou l’Optimisme (1759) sowie Herman Melvilles Moby-Dick; Or, The Whale (1851) stellen die zentralen Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Analyse dar (vgl. Abschnitt III).3
Die FdG werden im Zuge dieser Engführungen mit inszenierten Körpern wahlweise als ‚komprimiert‘/‚ausgedehnt‘, ‚chaotisch‘/‚geordnet‘‚ ‚klein‘/‚groß‘ etc. beschrieben, mit anderen FdG kombiniert, oder sie werden in (bekannte und unübliche) Wortkombinationen überführt (man denke zur Illustration an die schier endlose Liste von Weltkomposita: Welt-Markt, Welt-Krieg, Welt-Karte, etc.).4 In besonders prominenten Fällen werden die FdG auch kreativ in ihrem Wortmaterial verändert, d.h. beispielsweise vom ‚ globe ‘ (frz.) in ein ‚ globule ‘ (etwa: ‚Erdkügelchen‘) gewandelt (vgl. zu diesem konkreten Beispiel III.3.4.2).
Dies geschieht in Wechselwirkung mit Körpern, die als stark vergrößert oder verkleinert dargestellt werden (und so in ein neues (Größen-)Verhältnis zum ‚großen Ganzen‘ treten können), in staatspolitische Kontexte rücken (und so auf internationales Geschehen reflektieren), auf koloniale Praktiken verweisen (und damit einen transkontinentalen Ereigniszusammenhang sichtbar werden lassen), in Bedeutungszusammenhängen der TheodizeeTheodizee erscheinen (womit sie Fragen nach dem Ganzen aus religiöser Perspektive verhandeln), oder gar metaphorisch mit FdG – allen voran ‚Welt‘ – in eins gesetzt werden. Im Laufe der hier untersuchten Texte ist ‚Welt‘ beispielsweise einmal ‚Muschel‘ (vgl. III.1) und einmal ‚Wal‘ (III.4.3.2), wird also mit tierischen Körpern in eins gesetzt. Nicht zuletzt lassen sich mehrfach (zumindest tentative oder satirische) In-Eins-Setzungen des menschlichen Körpers mit FdG nachweisen. Diese Inszenierungen des menschlichen Körpers als ‚Welt‘ stellen einen Extrempunkt dar und können in allen drei Haupttexten isoliert werden.
In der Relation zwischen FdG und Körpern wird dabei ein automatisierter Bezug auf die Totalität unterbrochen, zugunsten einer Reflexion auf GanzheitGanzheit. Ausgehend von sehr grundsätzlichen, von den Texten z.T. explizit formulierten Fragen, – etwa ‚Was ist die Welt?‘, ‚Kann man die Ganzheit sehen?‘ – wird so Platz geschaffen für die Neu-Beschreibung stark raumgreifender Prozesse (Kolonialismus, SklavenhandelSklavenhandel, militärische Konflikte, Welt-HandelWelt-Handel (Welt-Markt)), die die Eigenschaften der dargestellten Ganzheit bestimmen.
Wie sich in diesen Ausführungen bereits andeutet, werden die literarischen Texte also hinsichtlich ihrer Reaktion auf, bzw. Interaktion mit, spezifischen historischen Kontexten untersucht. Diese Kontexte werden hier in den größeren Zusammenhang der von Immanuel Wallerstein beschriebenen ‚ExpansionExpansion des Welt-SystemWelt-Systems‘ eingeordnet (vgl. II.1.1), womit im Wesentlichen die Ausdehnung des kapitalistischen Systems beschrieben werden soll. Dieses erreicht im Lauf des 19. Jahrhundert19. Jahrhundert (Welt-System)s erstmals den Status eines globalen , d.h. erdumfassenden Zusammenhangs (s.u.). Die Prozesse dieser Expansion also, und deren erstmaliges Global-Werden, werden als zentraler Kontext der untersuchten literarischen Texte herangezogen.
Die Rede von Figuren der GanzheitGanzheit impliziert, dass keine letztgültige Definition der oben genannten Wörter (‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. – bzw. in den Sprachen des gewählten Textkorpus ‚ world ‘, ‚ monde ‘, ‚ earth ‘, ‚ terre ‘ sowie ‚ globe ‘) gegeben werden kann und soll; sie werden somit nicht als „Begriffe“ (Stockhammer, „Welt“ 48) im Sinne eines fest definierbaren Inhalts verstanden. Stattdessen ist ihre Bedeutung im Einzelfall jeder Verwendung stets neu zu bestimmen, d.h. „ihre Polysemien und Polyvalenzen lassen sich allenfalls in je spezifischen Verwendungszusammenhängen explizieren, nicht jedoch durch definitorische Maßnahmen ein für alle Mal regeln.“ (Stockhammer, „Welt“ 69)5 Damit lassen sich spezifische Bedeutung en dieser Figuren isolieren, ohne sie auf eine dieser Bedeutungen zu reduzieren. So richte ich mich auch nach dem Verständnis von ‚FigurFigur‘, wie Gayatri C. Spivak sie beschreibt: „The meaning of the figure is undecidable, and yet we must attempt to dis-figure it, read the logic of the metaphor.“ (71) Anstatt also eine externe Definition oder Konzeption von ‚Welt‘ – oder einer anderen FdG – an die Texte heranzutragen,6 wird hier auf die Arbeit der Texte selbst an ‚Welt‘, ‚Erde‘, ‚Globus‘ etc. als Figuren eingegangen. Daraus ergibt sich ein Prozess der Deutung der FdG, der Ergebnisse zeitigt, ohne diese als allgemeingültig festzusetzen. Die jeweiligen Bedeutungsnuancen der FdG sind im Einzelfall durch close reading und die Einbettung der Texte und Textstellen in ihren etymologischen und historischen Kontext zu ermitteln.7
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