Die geografische Ausbreitung des world-system wird von Wallerstein an mehreren Stellen erwähnt, und seine Terminologie bleibt dabei stets konsistent: Das world- system breitet sich über den „globe“ aus. Die FdG ‚ world ‘ unterhält also in Wallersteins Verwendung eine integrale Beziehung zur FdG ‚ globe ‘. Entsprechend der Logik einer immer umfassenderen ExpansionExpansion wird das System ab einem bestimmten Zeitpunkt global. Wallerstein aktualisiert so die Bedeutung von ‚Welt‘ als ‚flexible Ausdehnung‘. Der Begriff ‚Welt‘ erlaubt Wallerstein ein sich ausbreitendes System zu beschreiben, das relativ klein beginnt, und schließlich global wird. Die FdG ‚Welt‘ ist ideal geeignet, dieses Anwachsen zu beschreiben, und kann, ohne die geringste Irritation, sowohl den Beginn als auch das ‚globale Endstadium‘ der Ausbreitung des Systems bezeichnen. Hayot fasst alle bisher genannten Aspekte wie folgt zusammen:
World-systems are worlds, in the sense that they constitute a self-organizing, self-enclosed, and self-referential totality; but they are not to be confused with the actual world, which–though it is also, of course, a world–is the only world whose geographic scope coincides exactly with that of the Earth. (32)
Der Gefahr einer Naturalisierung eines historischen Systems durch die Wahl der FdG ‚ world ‘ tritt Wallerstein explizit entgegen; sie ist im Wort ‚Welt‘ ursächlich bereits angelegt, was seinen expliziten Kommentar nötig werden lässt. Anders gesagt lässt sich die Rede von ‚Welt‘ selbst in den skeptischen und vorsichtigen Ausführungen Wallersteins nicht ganz von ihrem totalisierenden Charakter befreien, der daher ausdrücklich abgewiesen werden muss.
Es handelt sich demnach bei Wallersteins Art der Beschreibung der Geschichte seit dem 16. Jahrhundert um die Darstellung einer schrittweisen Expansion, geprägt von der spezifischen Perspektive der Kapitalismusanalyse (vgl. hierzu Robertson, Globalization 15). Diese Analyse ist in ihrer Verwendung von FdG bemerkenswert präzise, insofern sie ihre Verwendung von world explizit und nuanciert diskutiert. Besagte Nuancierung wirkt einer Gleichsetzung von einer Welt mit der Welt entgegen, die einer Naturalisierung des aktuellen Welt-SystemWelt-Systems gleichkäme, und betont damit, dass ‚unsere Welt‘ ihrer Extension nach nicht immer global war – und deswegen nicht als alternativloses System angesehen werden muss.
Jede Rede von ‚Welt‘ muss also, wenn sie den Überlegungen von Wallerstein gerecht werden will, stets zwischen bestimmtem und unbestimmtem Artikel unterscheiden, bzw. lässt sich der Imperativ ableiten, die Analyse von FdG nie losgelöst vom jeweiligen historischen Kontext vorzunehmen.
1.4 Asymmetrie und Ein(s)heit
Franco Moretti ist ausgewiesener Rezipient der Arbeiten Wallersteins und versucht deren Beiträge zu den Literaturwissenschaften wiederholt auszuloten (vgl. „World-Systems“ 67–71). Entsprechend konzis ist seine Zusammenfassung der grundsätzlichsten Eigenschaften der aus der ExpansionExpansion des Welt-SystemWelt-Systems hervorgehenden ‚Welt‘:
The world becomes one , and unequal : one, because capitalism constrains production everywhere on the planet; and unequal, because its network of exchange requires, and reinforces, a marked power unevenness between the three areas [Zentrum, Peripherie, Semiperipherie; T.E.]. („World-Systems“ 70)1
Das Welt-SystemWelt-System bringt also einen Zusammenhang hervor,Einsheit (Unicity)2 „because capitalism constrains production everywhere on the planet“, und spannt ein globales ‚NetzNetz‘.3 Diese bewusst gewählte Metapher darf jedoch nicht missverstanden werden, wie Osterhammel und Petersson in Bezug auf ihre Konzeption von ‚GlobalisierungGlobalisierung‘ ausführen:
Das Bild des Netzes darf nicht den banalen Eindruck erwecken, als hänge alles mit allem zusammen. Interaktionen sind gerichtet. Manche von ihnen verlaufen tatsächlich reziprok und interaktiv, Tauschakte zum Beispiel, andere nicht. Der transatlantische SklavenhandelSklavenhandel der Frühen Neuzeit kannte nur eine Richtung: fast keiner der verschleppten Afrikaner kehrte je in seine Heimat zurück. (Osterhammel u. Petersson 22)
Wallerstein spricht von „deep inequalities of the world-system“ ( World-Systems xi).4 Dementsprechend ist die ‚Einheitlichkeit‘ des Zusammenhangs nicht falsch zu verstehen als ‚harmonischer Zusammenhalt‘. Genau dies tut jedoch ein spezifisches (man kann auch sagen: naives) Verständnis von ‚GlobalisierungGlobalisierung‘, wie ein weiterer Leser Wallersteins, Roland Robertson, ausführt:
In the mid-1980s some people got the impression that the move in the direction of what I now tend to call global unicity entails some kind of utopian view of global unity. Whereas the first term is, in my usage, neutral with respect to the risks, costs, benefits and dangers of rapidly increasing interdependence, interpenetration, global consciousness and so on, ‘unity’ and closely related terms imply – even when placed in quotation marks – social integration in quite a strong sense . […]. Indeed this misleading view of globalization as constituting a definite move to ‘world peace’ and integration is still to be found (and, of course, actively promoted by certain sociocultural movements). […]. Globalization is, at least empirically, not in and of itself a ‘nice thing,’ in spite of certain indications of ‘world progress.’ (6; Hervorhebungen T.E.)
Um dieses Missverständnis auszuschließen, wird hier im Folgenden von ‚Ein s heitEinsheit (Unicity)‘ anstelle von ‚EinheitEinheit‘ gesprochen, womit ich Robertsons Unterscheidung zwischen „unicity“ und „unity“ übertrage und umsetze. Gemeint sein soll damit der Charakter des Welt-SystemWelt-Systems als „a single, continuous geography all over the planet“ (Moretti, „World-Systems“ 71), und eben nicht jene „‘unity’“, die Robertson mit Recht empirisch als nicht gegeben ansieht. Denn dass die Kompression der GanzheitGanzheit zunehmend einen geschlossenen Zusammenhang hervorbringt, bedeutet noch lange nicht dessen Homogenität oder Harmonie. Im Gegenteil zeichnet sich das Welt-System durch ein Gefälle aus, eine AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems):5 „The world of capitalist civilization is a polarized and a polarizing world.“ (Wallerstein, Capitalism 137)
Es ist also die bereits oben von Arendt erwähnte Installation von „production everywhere“ (s.o.), die die Ein s heitEinsheit (Unicity) und AsymmetrieAsymmetrie (des Welt-Systems) hervorbringt. Pheng Cheah spricht von
a fundamental contradiction of the modern capitalist world-system. As Marx pointed out, the globalization of capital creates the material conditions for a community of the greatest possible extension. However, the capitalist world-system also radically undermines the achievement of a human community of global reach, that is, a genuine unity of the world. For Marx, the world is a normative category that exceeds the global market. (2)
Das kapitalistische Welt-SystemWelt-System generierte also seine Ausbreitung bis zur „greatest possible extension“ (von Arendt beschrieben als: „the limitations of the globe itself“, 250, s.o.), verhindert eine „genuine unity of the world“ jedoch aufgrund seiner inhärenten Struktur. Cheah schlägt mit Bezug auf Marx die Unterscheidung zwischen der FdG ‚ world ‘ und dem „global market“ vor, um den ‚normativen‘ Gehalt der FdG ‚ world ‘ von der Tatsache des globalen Marktes zu trennen. Wiederum scheint hier die – von Wallerstein genannte und oben analysierte – Problematik der FdG ‚ world ‘ auf.
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