Zwei Themenkreise, die für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von besonderer Bedeutung sind, werden in den Aufsätzen der Kapitel II – (Gegen) Das Schweigen schreiben – und III – Dialog der Künste – multiperspektivisch beleuchtet.
In Kapitel II arbeitet zunächst Dominique Dussidour in einer subjektiv-essayistischen Form wichtige Merkmale der Romane Nation par Barbès, Caspar-Friedrich-Strasse, Le Tour du lac und Mémorial heraus und gelangt zu dem Schluss, dass „[…] c’est bien d’un temps et d’un espace à eux, et à eux seuls, non partageables, qu’ont besoin les écrivains […] ils ont autant besoin, et même nécessité, d’un temps et d’un espace communs avec vous, avec tous“9.
Aus einer literarhistorisch-kulturwissenschaftlichen Sicht setzen sich Katja Schubert10 und Margarete Zimmermann11 mit Beaune-la-Rolande (Schubert, Zimmermann) bzw. Le Tour du lac, Mémorial, Conversations avec le maître und L’Île aux musées (Zimmermann) auseinander.
K. Schubert „ [zeichnet] die interne Bewegung des Textes zwischen Beaune-la-Rolande/Auschwitz als Ursprungs- und Gründungsereignis mit mythischen Konnotationen auf der einen und als radikaler universaler Frage auf der anderen Seite [nach]“. Neben einer historischen Kontextualisierung des Textes vermittelt K. Schubert wertvolle Einblicke in die ihn prägenden „Kompositions- und Schreibverfahren“.12
Margarete Zimmermann analysiert die Opposition zwischen „[…] Erinnern und Vergessen, Reden und Schweigen“ im konkreten Rückgriff auf „[…] eine Beschreibung der zu ihnen gehörenden semantischen Felder innerhalb des Wajsbrotschen Œuvres“. Darüber hinaus „[…] ergibt sich über diese Begriffe, vor allem über den des Schweigens, eine Positionierung Cécile Wajsbrots in ihrem Verhältnis zur Tradition der Moderne (hier vor allem zu Virginia Woolf); ferner ist es auf diese Weise möglich, sie präziser im Kontext der Gegenwartsliteratur, des extrême contemporain , zu situieren.“13 In der Literatur der Gegenwart seien Robert Antelme, Charlotte Delbo, Maurice Blanchot, Marguerite Duras und Primo Levi für C. Wajsbrot Autoren, die aufgrund der „[…] Rückholung einer geschichtlichen Substanz in die erzählende Literatur der Gegenwart […] vorbildlich und traditionsstiftend […]“ waren.14 Wichtige literaturtheoretische Positionen der Autorin arbeitet M. Zimmermann unter Bezugnahme auf die Essays Pour la littérature und Le Son du silence heraus.15
In seinem Beitrag „Geschichten vom Erinnern und Vergessen. Überlegungen eines Historikers zu Cécile Wajsbrots La Trahison “16 geht der Historiker Otto Gerhard Oexle, ausgehend von La Trahison , aus historisch-philosophischer Sicht auf die „[…] Problemgeschichte von Gedenken und Vergessen in der Moderne“17 ein. Nach einer historisch-systematischen Auseinandersetzung mit dem „[…]Problem der Historizität der Welt […]“18 skizziert Oexle, u.a. unter Bezugnahme auf die Causa Hans-Robert Jauß, welche Konsequenzen sich aus dem Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen bis in die Gegenwart ergeben haben.
In Kapitel III lenken die Aufsätze von Marguerite Gateau – „La place de la radio dans l’œuvre de Cécile Wajsbrot“ –19 und Hans T. Siepe – „ Le dégel des paroles gelées oder Das Schweigen erzählen. Zum Thema des Schreibens bei Cécile Wajsbrot“ – 20 die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die in Deutschland weniger beachteten fiktionalen Texte, die Cécile Wajsbrot für das Radio verfasst hat.
In „ Mémorial oder die Verdichtung der Stimme(n)“21 beleuchtet Stephanie Bung einen wichtigen narratologischen Entwicklungsschritt innerhalb des Erzählwerks Cécile Wajsbrots.
In ihrem Beitrag „‚Rien ne retient mon regard‘ – Tex-Bild-Relationen in Fugue “22 erschließt Roswitha Böhm über eine Analyse der Text-Bild-Relationen die tieferen Bedeutungsschichten einer kryptischen Erzählung.
In seinem das Kapitel III beschließenden Aufsatz „’Caspar-David-Friedrich-Strasse’. Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit“23 reflektiert Ottmar Ette zunächst über die Bedeutung verschiedener Phänomene der Abwesenheit in dem Roman, so z.B. die Abwesenheit des Namensteils „David“ im Titel; die Abwesenheit des jüngeren Bruders des Malers, der beim Versuch, seinen Bruder Caspar David vor dem Ertrinken zu bewahren, selber ertrank; oder aber die
materielle Abwesenheit der Bilder […] die vielleicht wichtigste Voraussetzung dafür, dass die stets gegebene Versuchung illustrativer Rückbindung an die Gemälde der Romantik gekappt beziehungsweise weitgehend reduziert und gleichsam eine Allgegenwart der Bilder suggeriert wird.24
Die Abwesenheit der Bilder und ‚Illustrationen‘ erlaube, wie Ette weiter ausführt, „ein freies transmediales Flottieren, in dem sich die ikonischen wie die literarischen Bildersprachen wechselseitig potenzieren.“25 Für Ette ist dies ein Anlass, über die Beziehung zwischen „Geschichte“ und „Leben“ und von diesem Punkt aus über die Funktion von Literatur – und damit über die Bedeutung des Schreibens – nachzudenken:
Literatur […] ist jener Diskurs, der Geschichte aus der Perspektive des Lebens und konkreter Lebensprozesse wahrnimmt und re-präsentiert; vor allem aber ist Literatur ein diskursiver Kosmos, der Geschichte in Leben übersetzt und die einander oft widersprechenden Blickwinkel verschiedenartigster Lebensgeschichten inszeniert. In diesem Sinne ist Literatur ein sich ständig verändernder und zugleich interaktiver, veränderbarer Speicher von Lebenswissen.26
Über das Leben des Schriftstellers-Erzählers in Caspar-Friedrich-Strasse schließlich sagt Ette, dass er versuche, „[…] eine Kunst des Raumes nicht nur in eine Kunst der Zeit, sondern zugleich auch in eine Kunst des Lebens zu übersetzen“27.
Es überrascht nicht, dass auch die übrigen auf verschiedene Publikationen verteilten Beiträge zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots die im Themenfeld I dieser Arbeit vereinten Romane vernachlässigen und sich stattdessen schwerpunktmäßig auf die Thematik beziehen, die in den in den Themenfeldern II und III zusammengefassten Texte vorherrscht. In zwei weiteren Aufsätzen28 stellt Ottmar Ette die Hintergründe und Auswirkungen der „[…] inter- und transkulturellen Relationalität der Statuen […]“ in L’Île aux musées , „die unterschiedlichen Zeiten und Räumen, Gesellschaften und Kulturen entstammen“29, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.30 Überdies charakterisiert er die Welt der Kunst als eine von einer Ander-Logik beherrschte Parallelwelt, durch die „Zeit-Räume“ entstehen, die „[…] die Grenzen individuellen menschlichen Erlebens“31 sprengen. – In dem großen Kontext seines Buches ZwischenWeltenSchreiben32 betrachtet Ette Beaune-la-Rolande als eine „Vergegenwärtigung von Stimmen der Vergangenheit“33 und Mémorial als einen „Echoraum von Stimmen ohne festen Wohnsitz“34.
Cornelia Klettke erkennt in L’Île aux musées eine archipelartig-fraktale, heterotopische Parallelwelt der Kunst, in der die „Heterologie“ der Statuen „[…] une espèce de choralité qui rappelle le chœur des tragédies antiques“ ermöglicht.35 Die Bezüge zwischen dem gedanklichen Aufbau und der ästhetisch-formalen Struktur des Romans werden in einer tiefschürfenden Textanalyse beleuchtet, die den Austausch zwischen den „Inseln der Kunst“, den Protagonisten und den Leserinnen und Lesern folgendermaßen erklärt:
Dans le roman, c’est l’émotionalisation qui semble être la stratégie textuelle prépondérante pour la production du sens. Les œuvres d’art en tant que dépôts d’énergie sont chargées d’intensités émotionnelles qui se transmettent aux protagonistes pour ensuite refluer vers les œuvres d’art. Le roman se révèle empreint d’un mouvement circulaire de transmission d’énergie entre le texte, l’homme et l’œuvre d’art, un mouvement qui englobe également le lecteur.36
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