Unter dem Einfluss der migratorischen Geschichte ihrer Familie und ihrer eigenen Biographie hat sich Cécile Wajsbrot im Laufe ihrer schriftstellerischen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit und auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln, ihrer „origine“, immer wieder „zwischen den Welten“ bewegt, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die Perspektive ihres Schreibens auf Einzelschicksale, und sei es ihr eigenes Leben, zu fokussieren. Allerdings wurde für sie wie für viele andere Autorinnen und Autoren mit einem ähnlichen biographischen Hintergrund die eigene oder, wie in ihrem Fall, die durch den Abstand der Generationen nur noch mittelbar erlebte Erfahrung der Migration zu einem bestimmenden Movens ihrer „quête littéraire“ in sehr unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsräumen.10
1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans
Cécile Wajsbrot hat sich mehrfach in literaturhistorisch und literaturtheoretisch argumentierender Form zur Bedeutung und Funktion der Literatur geäußert, wobei sie sich im Wesentlichen auf den Roman bezieht.1 Schon 1999 beklagt sie, dass der klassische Begriff der „littérature“ der Vergangenheit angehöre und einer weitgehend sinnentleerten Vorstellung von „écriture“ gewichen sei.2 Sie versäumt nicht, ihre eigenen Vorstellungen von „littérature“ zu entwickeln. Dabei fühlt sie sich einerseits dem literaturgeschichtlichen Erbe verpflichtet, andererseits will sie sich aber auch nicht mit der Beibehaltung alter Strukturen und Erzählungen begnügen, sondern unter Berücksichtigung aller Brüche und neuer Entwicklungen Kontinuität pflegen und Eigenständigkeit leben.3
Den Vorwurf des literarischen und geschichtlichen Kontinuitätsbruchs richtet Cécile Wajsbrot an Theoretiker des Nouveau Roman , namentlich an Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet:
[…] Nathalie Sarraute dans l’Ère du soupçon et Alain Robbe-Grillet dans Pour un nouveau roman édifiaient la théorie des villes nouvelles du roman, réfutant toute narration, toute présence d’un récit, de personnages, pour accepter comme seul élément fiable de la littérature, comme base unique sur laquelle elle pourrait reposer, pour n’accepter que le langage.4
Nathalie Sarraute habe „bei vollem Bewusstsein“ (en pleine conscience) die Frage gestellt, wie man nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts noch an die „Menschheit“ bzw. an „Menschlichkeit“ (humanité) und an die den Roman bevölkernden literarischen Figuren glauben könne. Der vor der Katastrophe die Augen verschließende Robbe-Grillet habe im Namen des „Überdrusses und der Langeweile“ (ennui) die „Tyrannei der Sinnhaftigkeit“ (la tyrannie du sens) angeprangert, sich aber nicht im Gefolge Camus’ oder Becketts der Theorie des Absurden, sondern in gewisser Weise der „l’art pour l’art“- Bewegung des 19. Jahrhunderts verschrieben, mithin einer Literaturform „[…] dont l’élégance suprême serait de ne rien dire, de ne rien signifier“5.
Der Kontinuitätsbruch ist indes in einen größeren Rahmen einzuordnen. Die Schriftsteller – und die Intellektuellen – haben sich mit ihrer Haltung des „Wegsehens“, wie C. Wajsbrot 1999 feststellt, lange Zeit lediglich dem „mainstream“ der französischen Gesellschaft angeschlossen. So haben sie die Zeit von 1939 bis 1945, den Schrecken der Naziherrschaft mit der von allgemeinem Schweigen begleiteten systematischen Vernichtung der europäischen Juden, die Okkupation und Kollaboration und ihre Folgen, aber auch den Abwurf der ersten Atombombe von den 50er bis in die 70er Jahre und sogar „[…] jusqu’à aujourd’hui […]“6 ausgeblendet und stattdessen lieber gegen den Einsatz der USA in Vietnam protestiert. Die Autorin mag von der Idee des „péché originel“, der Erbsünde und ihrer Wirkungen, geleitet worden sein, wenn sie feststellt: „Notre scène originelle, c’est Vichy, et comme toute scène originelle, elle gît dans la pénombre d’un inconscient qui ne demande qu’à oublier.“7 Die Erinnerung an den Krieg sei zwar überall – „[…] sur les plaques des immeubles, dans les rues des villes et des grandes capitales, sur le calendrier et sur les monuments aux morts, partout […]“ – 8 gegenwärtig, nicht jedoch in der Literatur. Und wenn sich die zeitgenössische Literatur in Frankreich mit Vichy-hörigen faschistischen Autoren wie Céline oder Brasillach noch immer arrangiere, dann übersehe man geflissentlich die von ihnen vermittelten Inhalte, um sich an ihrem Stil zu delektieren: „[…] il faudrait écouter la musique et non les paroles.“9 Mit ihrer resignierenden Feststellung „Céline est à l’image de la France […]“10 schließlich bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass ihrer Meinung nach die zeitgenössische Literatur Frankreichs durch eben diese Negation des Inhalts auf die Stufe der reinen „écriture“ herabgesunken ist. Hingegen stehe die Erinnerung an den Krieg in den Literaturen Zentraleuropas, von Deutschland bis Russland
[…] au cœur des romans, au cœur de la réflexion de ceux qui l’ont vécue comme de ceux qui sont nés après, dans l’ombre portée du souvenir. Oui, il est des pays dont la littérature porte la trace de tout cela, le désarroi, l’interrogation, ou le silence, tandis que chez nous, alors que ce monde s’écroule à son tour, depuis la chute du mur, l’exploration vient à peine de commencer.11
Für Cécile Wajsbrot definiert sich der Roman – genauer: der literarische Roman (roman littéraire), den sie vom „Unterhaltungsroman“ (roman romanesque) unterscheidet – durch eine von ihr als „totalité“ bezeichnete Einheit aus Form und Inhalt: „Le roman est totalité – totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu.[…] Le roman est totalité. C’est sa définition même.“12 Der Totalitätsanspruch des Romans beruht für Cécile Wajsbrot jedoch keineswegs nur auf der durchaus als klassisch-tradiert zu bezeichnenden Entsprechung zwischen Form und Inhalt, sondern ebenso auf der sich ins Unendliche öffnenden inhaltlich-thematischen Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven, die sie mit dem Hinweis auf eine Auswahl von Romanen – von La Princesse de Clèves bis zu Anna Karenina – überzeugend zu belegen vermag. Welche Anforderungen an Autorinnen und Autoren mit diesem Anspruch einhergehen, erläutert Cécile Wajsbrot in der für sie fundamental wichtigen Form einer Raummetapher, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:
Notre installation sur les terres du roman littéraire, le parcours de ses forêts ne peut se faire que dans le temps où nous sommes ou plutôt, ne peut se faire sans s’inscrire dans le temps où nous sommes, ce qui signifie à la fois connaître ce qui nous a précédés dans l’histoire et savoir que nous écrivons maintenant. Ni avant ni apres mais précisément dans le lieu et le temps où nous vivons.13
Beim Prozess des Schreibens sieht Cécile Wajsbrot die Autorinnen und Autoren eines Romans folglich in eine Tradition hineingestellt, die sich einerseits auf die Vergangenheit im Ganzen, andererseits jedoch auch auf die von ihnen selbst ge - und er lebte Zeit bezieht, mithin auf die jeweils aktuellen räumlich-örtlichen und zeitlichen Bedingungen, den Chronotopos. In demselben Text präzisiert Wajsbrot etwas später, dass sich die Verpflichtung gegenüber dem Erbe der Geschichte auch auf „[…] une succession de livres“ beziehe, dass sich das Schreiben gleichermaßen „[…] dans le temps biographique et le temps littéraire“ einfüge. Wohl auch unter dem Einfluss ihrer eigenen Biographie und der Geschichte ihrer Familie betrachtet sie daher das Schreiben als eine dreifache Verpflichtung: „[…] c’est aussi prendre la parole, rompre le silence, et porter témoignage“.14 In der bewussten Annahme dieses Auftrags der Literatur zur Stellungnahme und einer das Verschweigen überwindenden Zeugenschaft liegt wohl der eigentliche Grund für die Befreiung, die, wie Cécile Wajsbrot überzeugt feststellt, von der Beschäftigung mit der Vergangenheit ausgeht: „La connaissance des autres, de l’histoire […] la connaissance de l’histoire pourrait nous libérer.“15
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