Mit der Robbe-Grillet zugeschriebenen Inhaltsleere des Nouveau Roman vermag Cécile Wajsbrot dieses Konzept nicht in Einklang zu bringen.16 Demgegenüber verteidigt sie vehement die Comédie humaine Balzacs.17 Starke Sympathien hegt sie insbesondere für Marcel Proust, dessen Innovationen leider folgenlos geblieben seien, und Virginia Woolf.18 Gerne beruft sie sich auf Proust, um den Totalitätsanspruch des Romans und die ihm daraus erwachsende Aufgabe, die Zeit als vielschichtige Einheit aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu behandeln,19 hervorzuheben, hat Proust doch in seiner Recherche „[…] la totalité de l’iceberg, sa partie émergée et sa part immergée […]“20 erforscht. Dass sich der Roman als literarisches Genre mit der Zeit nicht in einer verkürzten, distanzlosen, unreflektiert abbildhaften und als „écriture“ einzustufenden Art und Weise auseinandersetzen sollte, unterstreicht die Autorin mit der folgenden programmatischen Erklärung:
Le roman travaille sur le temps, travaille le temps, c’est pourquoi se déposent en lui les travers de l’époque, le risque de l’éphémère mais aussi la possibilité de les transcender en dessinant le temps […] la possibilité de le configurer c’est-à-dire de le relier aux chaînes d’événements des époques passées et de le décrire non platement comme le ferait le journalisme […] mais dans ses trois dimensions comme un objet holographique.21
Cécile Wajsbrot ist sich sehr wohl bewusst, dass die Möglichkeiten der unmittelbar-direkten Zeitzeugenschaft aufgrund der Begrenztheit der eigenen Erfahrungen stark eingeschränkt sind. So gilt im Hinblick auf die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sie, dass sie als Angehörige der „[…] génération venue après […]“ auf in unterschiedlichster Form vermittelte Erzählungen angewiesen ist, um sodann über eigene Fragestellungen – […] pas au sens d’un historicisme anachronique mais au sens d’un renouvellement […] – zu einer „[…] reconstitution de repères“ 22, d.h. zu einer Kontinuität sichernden, Orientierung ermöglichenden neuen Sicht auf Vergangenes zu gelangen.
Um dem an ihn gerichteten „Totalitätsanspruch“ gerecht zu werden, muss der Roman sowohl die „Innenwelt“ – le dedans –, also das die handelnden Figuren in ihrem Denken und Fühlen Bewegende, als auch die „Außenwelt“ – le dehors –, also die durch Raum und Zeit konstituierten Bedingungen darstellen. Zu diesen beiden elementaren Faktoren gesellt sich „[…] un troisième ingrédient qu’on peut appeler mystère ou secret, une chose qui crée la tension et qui repose autant sur l’art du récit – […] que sur la croyance en la littérature, un troisième ingrédient qui donne à l’œuvre sa troisième dimension.“23 Im Bilde des Eisbergs gesprochen, ist es der unter Wasser liegende Bereich, der die dritte Dimension des Romans ausmacht:
L’exploration est infinie, et le roman […] n’a encore découvert que la surface émergée de l’iceberg, n’a rien couvert encore de l’espace qui va du silence à la parole, de la vie à la mort, n’a rien franchi de cette distance infranchissable qui sépare Achille et la tortue.24
Gewiss mag man Cécile Wajsbrot vorwerfen, dass ihre Erklärungen bzgl. des „mystère de la littérature“ recht vage bleiben.25 Es ist für sie jedoch von entscheidender Bedeutung, dass es in einer durch und durch rationalisierten Zeit, in der man alle Fragen – bis in die „[…] zones obscures de la personnalité […]“26 – für erklärbar hält und den Tod nur noch als ursächlich genau zu bestimmende „Panne“ (accident de parcours) betrachtet, mit dem Roman einen poetischen Raum für das „Geheimnisvolle“ gibt. Das „Geheimnisvolle“, in welcher Form es sich auch äußern mag, bewirkt jedoch, wie Cécile Wajsbrot andeutet, etwas als angenehm Empfundenes: Das „grelle Licht“ einer umfassenden Erklärbarkeit aller Belange des Lebens wird von der das „Geheimnisvolle“ umgebenden Dunkelheit umhüllt und eben dadurch auch erträglicher:
Peu importe la forme ou le visage que prend le mystère, les agissements de quelqu’un, une venue, une disparition, une question d’identité, ce qui compte, c’est qu’il soit là, c’est qu’un peu de ses ténèbres vienne obscurcir enfin la lumière crue.27
Der Unterschied zwischen einer nur an Fakten orientierten, um Aktualität bemühten, abbildhaften „écriture“ und der aus einer zeitlichen und gedanklichen Distanz abwägenden, eine eigene Weltsicht vermittelnden und dabei um Antworten auf existentiell wichtige Fragen ringenden „littérature“ wird auch an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich. Aufgrund der hier skizzierten Eigenschaften von „littérature“ kann Cécile Wajsbrot daher auch mit Fug und Recht von der „[…] universalité de la littérature […]“ sprechen, insofern, um eines ihrer Beispiele zu zitieren, Tolstois Krieg und Frieden nicht nur in nostalgischer Erinnerung an die napoleonische Zeit lebende Russen interessieren dürfte.28 Es macht den besonderen Charakter von Literatur aus, dass sich im Beispiel des Einzelfalles stets allgemein Menschliches spiegelt.
Für eine Studie über die Darstellung literarischer Suchbewegungen im Erzählwerk Cécile Wajsbrots liefern die hier zusammengefassten literaturtheoretischen und -historischen Überlegungen der Autorin verschiedene Anhaltspunkte. Dies gilt insbesondere für
ihre These, dass der Roman eine „[…] totalité de la forme et du contenu“ darstellt
ihre Überzeugung, dass das Schreiben eines Romans Vertrautheit einerseits mit der Geschichte und der literarischen Tradition, andererseits mit den örtlich-räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen der Gegenwart (im Sinne der Entstehungszeit des Romans) voraussetzt
ihre Forderung, dass ein „roman littéraire“ dem Anspruch eines Zeitzeugnisses gerecht zu werden habe.
1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots
Einen überaus hilfreichen und gewinnbringenden Zugang zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots eröffnet der bereits in der Einleitung erwähnte, 2010 erschienene, von Roswitha Böhm und Margarete Zimmermann herausgegebene Sammelband Du Silence à la voix – Studien zum Werk von Cécile Wajsbrot .1 Einer der Vorzüge des Buches ist, dass die Herausgeberinnen in ihrem einleitenden Aufsatz2 im Sinne einer „grobe[n] Typologisierung“ (S. 9) die thematischen Schwerpunkte des Werks der Autorin vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte und ihres persönlichen Werdegangs herausarbeiten und es insgesamt treffend als „literarische Suchbewegung“ bezeichnen,
die zwar durchaus an historische Dokumente und überlebende Zeitzeugen anknüpft, deren Anliegen es aber ist, den Grenzbereich zwischen dem Sagbaren und dem Ungesagten, zwischen öffentlicher Geschichte und privater Erinnerung, zwischen Gedenken und Vergessen auszuloten.3
Dass neben der Beschäftigung mit historischen bzw. zeitkritischen Themen die Auseinandersetzung mit den Künsten ab Caspar-Friedrich-Strasse (2002) die Romane Cécile Wajsbrots beherrscht, stellen die Herausgeberinnen in einer kritischen Sichtung der bis zum damaligen Zeitpunkt erschienenen Werke dar, indem sie den Zusammenhang zwischen dem „Zyklus der Künste und ihrer Rezeption“ betonen.4 Verdienstvoll ist nicht zuletzt die beigefügte Bibliographie,5 die einen Überblick über die bis 2010 erschienenen Werke Wajsbrots (einschließlich der Hörspiele und einer Auswahl von Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen), Interviews, Rezensionen in der französisch- und deutschsprachigen Presse sowie über die Forschungs- und weiterführende Literatur bietet.
Ein weiterer Vorzug des Sammelbandes ist, dass im Kapitel I Cécile Wajsbrot nicht nur mit dem eigens für den Band verfassten kurzen Erzähltext La Ville de l’oiseau6, sondern auch mit dem literaturtheoretischen Text Traverser les grandes eaux7 und in einem Interview zu Wort kommt, das von Elke Richter und Natascha Ueckmann zum Thema „L’irréparable et la vie quotidienne“ geführt wird.8 Inhaltliche Schwerpunkte des an Pour la littérature (1999) anknüpfenden Essays Traverser les grandes eaux – der Titel wirkt wie ein Echo auf den Haute Mer -Zyklus – sind insbesondere die Auseinandersetzung der Autorin mit der Rolle der Sprache und Literaturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Nouveau Roman, Probleme des eigenen Schreibens und die Bedeutung literarischer Vorbilder. Ein besonderer Akzent des Interviews liegt auf der Frage der Herkunft der Autorin und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für ihr Werk und ihre Wohnsitze in Paris und Berlin.
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