Dieser Reiz der Suche nach dem Äußersten, der risikoreiche Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, evozieren ein Bild aus dem Bereich der Seefahrt: Agathes – nicht erwiderte – Hinwendung zu Marc gleicht dem „[…] besoin d’affronter les mers du Sud quand tant d’autres océans sont assez vastes et moins extrêmes […]“24. Der in dieser bildhaften Gegenüberstellung zum Ausdruck gelangende innere Zwiespalt Agathes wird erneut sichtbar, nachdem Loïc sie über ein Gespräch mit seiner Frau in Kenntnis gesetzt hat. Er hat Lucie eröffnet, dass er in der Beziehung zu ihr nicht mehr Liebe, sondern nur noch „[…] la force de l’habitude, le sens du devoir, quelque chose lié à la situation plutôt qu’à la personne“25 erkenne. Agathe ist angesichts dieser Mitteilung, die Loïcs Liebe zu ihr und das ganze Ausmaß seines Verzichts und seines Leidens offenbart, tief berührt, zugleich löst die Möglichkeit eines Anrufs Marcs in ihr jedoch eine Mischung aus Furcht und Hoffnung aus. Sie empfindet den Unterschied zwischen diesen emotionalen Zuständen nicht als „simple écart“, sondern als „[…] un gouffre, un abîme, deux rives d’un fleuve qui n’appartenaient pas au même pays“26, mithin als Spaltung ihrer eigenen Persönlichkeit. In einem späteren Kontext wird das Bild des wankenden Bodens, der „sables mouvants“ variiert, wenn Agathe sich in ihrer Orientierungsnot in der Nähe eines kurz vor dem Ausbruch stehenden Vulkans wähnt und ihre einstmals klaren Leitvorstellungen und Wertmaßstäbe – [l]a netteté en laquelle elle avait toujours cru […] – in einer „[…] dans les brumes épaisses et humides […]“27 eingehüllten Landschaft verschwinden. Die innere Isolation Agathes entwickelt indes eine rasante Eigendynamik, insofern eine direkte, ungefilterte Kommunikation mit ihren Mitmenschen für sie nicht mehr möglich ist.28 Zwischen sie und ihre Kommunikationspartner hat sich eine Art innerer Prüf- und Vermittlungsinstanz eingeschlichen, die ihre Sprechbereitschaft auf ein Minimum einschränkt.29 Sodann werden ihre Treffen mit Loïc zu einem „[…] combat intérieur […]“30, der, wie sie hofft, Loïc verborgen bleibt, denn „[…] chacune de ses avancées, de ses propositions, déclenchait comme la rupture, en elle, d’un barrage que les flots emportaient et qu’il fallait à tout prix reconstruire“31. Agathe erlebt einen Auflösungs-und Desintegrationsprozess ihrer Person, durch den sie sich selbst so stark verändert fühlt, dass sie sich nicht mehr für wiedererkennbar hält. Der Vergleich ihrer inneren Verfasstheit mit dem Bruch eines Staudamms drückt auf überaus drastische Weise aus, in welchem Maß sie jeglichen Halt und jegliche Verhaltenssicherheit verloren hat. Die Ursache dieser pathologisch zu nennenden Persönlichkeitsstörung wird im auktorialen Erzählmodus und daher mit besonderer Autorität auf sehr einfache Weise so erklärt: „Quelque chose s’était perdu qu’on pouvait appeler l’innocence, le droit de juger les autres, de se sentir entière et sans faille […].“32
Nachdem Lucie Loïc ultimativ aufgefordert hat, sich innerhalb von zwei Wochen zwischen ihr und Agathe zu entscheiden,33 wird Agathe ihrerseits von Loïc vor die Wahl gestellt. Agathe fühlt sich einerseits gedemütigt,34 andererseits möchte sie Loïc zwar nahe sein und ihm „alles erzählen“, meint aber, dazu nicht berechtigt zu sein.35 So bleibt es Loïc, der, anders als Agathe, durch eine klare Entscheidung seine „Unschuld“ wiedererlangt hat, vorbehalten, das Thema Saint-Thomas anzusprechen und Agathe seine Hilfe anzubieten. Agathe jedoch vermag nicht mehr ihre Worte und Taten in Übereinstimmung zu bringen und damit die Voraussetzungen der „Unschuld“ zu erfüllen. Sie gesteht, dass sie infolgedessen den Eindruck einer völligen Auflösung ihrer selbst hat:
[…] j’ai l’impression, si je me lève, que tout va s’écrouler, que les différentes parties de mon corps n’appartiennent plus au même corps, que mes pensées ne sont plus totalement les miennes, que certaines appartiennent à quelqu’un d’autre qui loge à l’intérieur de moi. Je ne peux plus rien dire.36
2.4.3 Die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce als „image de la vie souhaitée avec Loïc“
Nach einem Gespräch mit Jeanne, das Agathe nach Loïcs erster Reiseabsage geführt hat, erinnert sich Agathe, allein in ihrer Wohnung, daran, dass sie vor einiger Zeit an einem Sonntagabend mit ihrer Freundin Éliane an einer Messe in der Chapelle Notre-Dame-de-Grâce in Honfleur, deren hölzerne Dachkonstruktion einem umgedrehten Schiff gleicht, teilgenommen hat.1 Vom Licht, der schlichten Schönheit der Architektur der Anfang des 17. Jahrhunderts von Bürgern und Fischern errichteten Kapelle, von den Votivtafeln, die im Namen von vor dem Schiffbruch geretteten Matrosen angebracht waren, aber auch vom Gesang der versammelten Gemeinde fühlt sich Agathe zu Tränen gerührt. In diesem Moment erwacht in ihr, und in ihrer Freundin gleichermaßen, ein Gedanke, dessen Unerfüllbarkeit sie sich sofort bewusst wird: „[…] elle aurait souhaité être avec eux, habiter là, être femme de pêcheur et croire en Dieu pour assister à cette messe et rentrer chez elle […] faire partie de quelque chose, mais sa vie n’était pas là, cette paix n’était pas pour elle […].“2 Ihre Wunschvorstellung, aus ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Isolation auszubrechen, sowie ihre Sehnsucht nach einem einfachen, auf einem sicheren Wertefundament gegründeten Leben durchschaut Agathe bereits beim Verlassen der Kapelle als etwas nicht zu ihr Passendes. Gleichzeitig jedoch wirkt das für die Rückfahrt bereit stehende Auto auf sie wie „[…] l’instrument d’une errance stupide“3, d.h. dass sie die Fortsetzung ihres Lebens in der bisherigen Form für eine ziel- und damit sinnlose Angelegenheit hält. Die tiefere Ursache für ihre durch die Chapelle Notre-Dame-de-Grâce ausgelöste emotionale Bewegung hat sie indes nach einer Zeit des Schweigens erkannt: „La chapelle éclairée était un peu à l’image de la vie qu’elle entrevoyait avec Loïc […].“4 So vermag ein realer Ort, dessen konfessionell-religiöse Prägung keineswegs mit dem Weltbild Agathes übereinstimmt, gleichwohl ihre Träume von einem gemeinsamen Leben mit Loïc zu konkretisieren, und sie schließt eine Änderung ihres Lebens nicht aus für den Fall, dass Lucie Loïc verlässt. Als sie über eine solche Perspektive nachsinnt, glaubt sie, für einen Moment durch das Autofenster im Halbschatten zu erkennen, wie „jemand“, also eine nicht identifizierte Person, unbekümmert über das Dach (der Kapelle) spaziert – eine Illusion, die das Unwirkliche des sehnlich Erwünschten unterstreicht.5
2.4.4 Medial vermittelte Räume
Die Mitteilung über die von Agathe getätigte Hotelbuchung für Saint-Thomas wird kontextuell eingerahmt von einem Exkurs über ihre Begeisterung für den Vendée Globe, die größte, mit zahlreichen Risiken und Gefahren verbundene Einhand-Segelregatta der Welt, und ihren Besuch einer Ausstellung über Polarexpeditionen im Jardin des Plantes, bei dem sie von Jeanne begleitet wird.1 Erzähltechnisch wird auf diese Weise eine Konstellation geschaffen, bei der disparate Ereignisse wie die in Sables-d’Olonne endende Weltumseglung einerseits und eine Wochenendreise von Paris nach Saint-Thomas andererseits durch die interne Fokalisierung in eine wechselseitige Beziehung gebracht werden. Die Länge und die Herausforderungen der Regatta, an die sich jeder Teilnehmer nur „[…] avec un mélange d’effroi et de nostalgie […]“2 erinnert, werden formal bereits durch die extrem mäandrierende Syntax widergespiegelt. Sodann werden die realen Gefahren durch die Erwähnung des im Januar 1998 verschollenen kanadischen Seglers Gerry Roofs und den Hinweis auf die Ursachen der existentiellen Gefahren untermauert: „[…] les certitudes n’existaient plus, […] les limites s’estompaient, entre les océans, entre l’eau et la glace, entre le ciel et l’eau, la surface et le fond, et même l’ultime limite, entre la vie et la mort.“3 Agathe ist von den „[…] récits de terreur apaisée […]“4 gleichermaßen fasziniert und erschüttert. Sie geben Grenzerfahrungen wieder, die von der „[…] alternance des pics et des abîmes, ce vertige du très haut et du très bas […]“5, mithin sehr gegensätzlichen Erlebnissen, geprägt sind und beim Hörer zwar ein gewisses Behagen, vor allem jedoch das Gefühl auslösen, dass das eigene Leben „[…] peu de choses au regard des terrifiantes aventures […]“6 bietet. In ihrer sie verzehrenden Vereinsamung einer schlaflosen Nacht erkennt Agathe jedoch eine Parallele zum Lebensgefühl der Segler, die durch die Orientierung an einem angestrebten Zielort zum Ausdruck gebracht wird: „[…] dans la nuit où le sommeil se dérobait, Saint-Thomas paraissait aussi lointain et irréel que les Sables-d’Olonne à ceux qui se trouvaient au bord de l’Antarctique.“7
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