Im Hinblick auf die konkrete Situation des Aufbruchs skizziert die Erzählinstanz den Vorzug der Distanzierung von Gewohntem und der Öffnung für neue Lebensweisen, um sogleich die von den „Loïcs, Lucies und Vätern von Lucie“ bevorzugte Alternative eines „einzigen“, immer in denselben Bahnen verlaufenden, Sicherheit garantierenden Lebens vorzustellen. Führt schon die unbedeutendste Reise zu einem möglicherweise irritierenden Vergleich zwischen dem „ici“ und „là-bas“, also den Vorzügen und Nachteilen des Herkunfts- und Zielorts, so bleibt den Nichtreisenden jegliche aus einer solchen Gegenüberstellung resultierende Irritation erspart.6
Diese in die Darstellung des Handlungsablaufs eingefügte auktoriale Reflexion spiegelt die von Agathe bereits durchlebten und sie auch weiterhin quälenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Reise nach Saint Thomas wider. Gleichwohl entfernen sich Agathe und Marc mit zunehmendem Abstand von Paris auch von ihrem dort geführten Leben. Mit der Nähe zu Saint-Thomas erreichen sie einen Punkt, an dem „[…] l’espace et le temps se confondent pour former une sorte de pont suspendu entre un aller et un retour, entre deux rives d’une même vie […]“.7 Mit der Brücken- und Ufermetapher gelangt sowohl das Vorübergehende als auch das qualitativ Besondere dieses Augenblicks zum Ausdruck. Die Wirklichkeit wird zwar keineswegs ausgeblendet, aber von beiden Figuren anders wahrgenommen. Loïc und Véronique scheinen entrückt „[…] comme les silhouettes d’une ville lointaine, les habitants d’une contrée délaissée […] les personnages d’un roman qu’on aurait commencé de lire mais qu’on reposerait quelque temps pour en entreprendre un autre, plus facile d’accès“.8 Wird somit die von Agathe und Marc real erlebte Vergangenheit als romanhaft bezeichnet, da sie von beiden in der Rückschau des von der Nähe zu Saint-Thomas beherrschten Augenblicks als unwirklich empfunden wird, so präsentiert sich auch die unmittelbare Zukunft in all ihrer vagen Unbestimmtheit als romanhaft und unwirklich. Mit welcher Entschiedenheit Agathe und Marc sich von Vergangenem zu lösen versuchen, unterstreicht in diesem aus ihrer gemeinsamen Perspektive erzählten Abschnitt der Übergang von der dritten zur ersten Person Plural des Personalpronomens (Ils > nous) bzw. zum indefiniten Pronomen „on“, ein Vorgang, der die interne Fokalisierung zusätzlich steigert und damit die innere Befindlichkeit Agathes und Marcs im Moment der Ankunft in Saint-Thomas unmittelbar zum Ausdruck bringt.9
Aufenthalt in Saint-Thomas
Vor diesem Hintergrund wirkt die – aus dem Blickwinkel Agathes erfolgende – Beschreibung der Ankunft in Saint-Thomas wie ein inhaltlicher Kontrapunkt. Wohl unter dem Eindruck einer heranbrandenden Welle wird das Meer mit einer aufbrausenden Musik verglichen. Sodann weckt das Meer, darin vergleichbar mit Eisbergen, die aus dem Nichts auftauchen und an denen Segelschiffe vorbeigleiten, „[…] la sensation contradictoire d’une exaltation et d’un apaisement, d’être ailleurs et en même temps, au fond de soi“.1 Diese überschwängliche Begeisterung einerseits und innere Befriedung andererseits, das gleichzeitige Außer-sich und Ganz-bei-sich-Sein sind jedoch nicht dem Zusammensein Agathes mit Marc geschuldet, denn schließlich enthüllt ein Bewusstseinsbericht, in welchem Maße Agathe, schweren und bedrückten Herzens und mit einem an Verzweiflung grenzenden Schmerz, auch in Saint-Thomas in Gedanken Loïc verbunden bleibt: „[…] Agathe se dit qu’elle aurait aimé voir cela avec Loïc, qu’elle avait cru un peu trop facilement avoir laissé à Paris.“2
Marc hingegen erweckt bei der Ankunft in Saint-Thomas mit seiner Behauptung „Rien n’a changé […]“3 den Eindruck, als habe sich aus seiner Sicht seit seinem Aufenthalt im Herbst nichts geändert, als sei die Zeit stehen geblieben. Trotz der chaotischen, ungeklärten Verhältnisse, in denen er lebt, scheint er zu hoffen, dass sich, wie im Herbst, seine sich mit dem Ort verbindenden Erwartungen, welcher Art sie auch seien, erfüllen mögen. Er betrachtet Saint-Thomas ganz offensichtlich als einen aus dem Verlauf der Zeit herausgenommenen Garanten des Glücks.
Die erhoffte Befreiung von der „Gegenwart“ Loïcs vermag der Ort Saint-Thomas in Agathe einstweilen nicht zu bewirken. Ihr Warten (l’attente), im Fluss der Erzählung metaphorisch konkretisiert zum „[…] lieu des espoirs permis, de ce qu’on imaginait, qui allait se produire, l’accomplissement était la fin des espoirs, le début du décalage entre ce qu’on imaginait et ce qui se produisait“4, projiziert sie in ihrem Bewusstsein einstweilen eindeutig weiterhin auf Loïc, wobei sie offensichtlich nicht mehr an eine Erfüllung ihrer Hoffnung zu glauben vermag. Dafür sprechen folgende Indizien:
Liebe ist für Agathe nicht mehr ein Dialog, sondern „[…] une série de monologues alternés […]“5.
Das Bild „Der Kuss“ von Gustav Klimt wird von der Erzählstimme mit der morbiden, im Kontext auf Agathe projizierten Vorstellung in Verbindung gebracht, dass die Frau im Moment der völligen Hingabe dem Tode nahe ist.6
Und schließlich reagiert Agathe auf den Vorschlag Marcs, mit Loïc nach Saint-Thomas zu reisen, abweisend, da sich vor ihr eine Mauer aufzutürmen scheint: „Je n’y crois plus […] J’ai l’impression d’un mur […] qui se dresse devant moi […]“7
Es ist kennzeichnend für die Befindlichkeit Agathes, dass sie sich in eben diesem Moment bewusst macht, dass sie sich „mit anderen“ (avec les autres) in einer Sackgasse (une impasse) wähnt, während ein Gespräch mit Loïc bewirkte „[qu’] elle voyait le monde s’ouvrir, l’horizon s’éclaircir“.8 Und trotz aller Bemühungen Agathes, sich von Loïc innerlich zu lösen, bleibt er gegenwärtig. Verstärkt drängt sich ihr Gefühl seiner anhaltenden Präsenz insbesondere „[…] dans cette chambre […]“ auf, wo „[…] tout ce qui aurait eu un sens avec Loïc n’en avait pas avec Marc […]“.9 Für „dieses Zimmer“, mit dem sich ursprünglich so viele Hoffnungen Agathes verknüpften, trifft die Beobachtung Gerhard Hoffmanns zu, dass „[…] die Anwesenheit bestimmter Personen ein Zimmer, ein Haus ‚eng‘ oder ‚weit‘ machen kann“, so dass eine „Gestimmtheit des Raumes“ entsteht.10 Zur „Gestimmtheit des Raumes“ im weiteren Sinne tragen daneben die wiederholten Hinweise auf den Regen bei, der auf dem Höhepunkt der Entwicklung ein sintflutartiges Maß annimmt, den Horizont verschließt und in Agathe und Marc den Eindruck einer „vie sans issue“ aufkommen lässt.11 In eben diesen Kontext platziert die Erzählstimme auch die in Agathe aufsteigende Erinnerung an den Suizid Virginia Woolfs, Robert Schumanns und einiger berühmter Schriftsteller. Ausgelöst wird diese Erinnerung durch ihre Beschäftigung mit dem Roman Soleil couchant von Ozamu Dazai, der 1948, ein Jahr nach Erscheinen dieses Buches, den Freitod wählte.
Gleichzeitig gibt es eindeutige Signale für eine sich anbahnende neue Entwicklung: Als Agathe beim Anblick des Gewitters ausruft: „Et voir l’orage de notre chambre […]“,12 erschrickt sie darüber, dass sie anstelle des bestimmten Artikels „la“ den Possessivdeterminanten „notre“ verwendet und so den Eindruck erweckt hat, als spräche sie mit Marc wie mit Loïc. Sobald Marc den Namen „Loïc“ ausspricht, hat sie zwar den Eindruck, als ob Loïc das Zimmer beträte und sich zwischen sie setzte. Dass sie dabei Loïc jedoch inzwischen als „Eindringling“ empfindet, ist ein klares Indiz dafür, dass sich ihre Gemütsverfassung ändert.13 Schließlich denkt Agathe inzwischen auch darüber nach, dass bzw. warum sie und Loïc stets nur ihre Zweisamkeit gepflegt und sich nie gegenseitig ihre Freunde vorgestellt haben. Das „[être] seuls au monde, sans passé, sans attache […]“ bedeute auch „[être] sans avenir […]“, eine Diagnose, die zur Veranschaulichung noch durch eine Insel-Metapher ergänzt wird, die eine Haltung der Selbstgenügsamkeit und der bewussten Isolation von der persönlichen Umgebung als Ursache für Vitalitätsverlust benennt: „[…] une île isolée en plein océan qui n’est reliée à aucun continent est vouée à rester une île, belle, protégée mais sans vie […]“.14
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