In welchem Maße die Erinnerungen an die mit seiner Schwester in Brasilien verbrachte Zeit in Vincent nachwirken, vermittelt in besonders intensiver Weise die Beschreibung seiner Fahrt zu Gilles’ Haus am Meer.11 Die Erzählung wird in einer surrealistisch anmutenden Weise verschmolzen mit Rückblicken auf eine Autofahrt durch den brasilianischen Dschungel, bei der Vincent und seine Schwester in der Nähe eines Hafens eine Szenerie erleben, die, wie die großen Schwärme schwarzer und weißer Vögel „[…] qui s’apprêtaient au festin funèbre de leurs becs“12 signalisieren, durch eine Fülle von Gegensätzen gekennzeichnet ist: Exotische Farben unbekannter Spezies rufen Bewunderung hervor, der Anblick von Fäulnis und eiternden Wunden erregt Ekel. Auf der einen Seite wirkt das Marktgeschehen anziehend auf die Menschen, auf der anderen Seite locken Schlamm und Dreck die Vögel an. Die detaillierte Beschreibung des Nebeneinanders von Leben und Tod gipfelt in einem sich fast über eine ganze Seite erstreckenden Satzgefüge, in dessen Schlussteil Vincents Angst vor tödlicher Bedrohung zum Ausdruck gelangt:
[…] d’un côté la vie – une vie de masse et de grouillement […] une vie nue ni pire ni meilleure que d’autres mais dure et coincée entre deux grands espaces, la forêt et le fleuve […] d’un côté la vie et de l’autre la mort, les charognards présents, massés, serrés, les pattes engluées dans les boues rouges, à attendre, à guetter, le suivant, flottant parmi les eaux, prêts à partir le chercher.13
Die Schilderung der Erinnerungen Vincents an die morbide Atmosphäre des brasilianischen Dschungels wird von der Erzählinstanz nahtlos übergeleitet in die Beschreibung eines lebensgefährlichen Überholmanövers, bei dem Vincent – auf der Fahrt zu Gilles’ Haus am Meer – glaubt, eine seiner Schwester täuschend ähnliche Frau erkannt zu haben.14 Wenn in den Gedanken Vincents die Realität durch traumähnlich-halluzinatorische Zustände verdrängt wird, so macht dies deutlich, mit welcher Intensität die Schwester auch nach ihrem Tod – völlig unabhängig von räumlichen Veränderungen – für ihn präsent ist. Zugleich jedoch verbindet die Erzählinstanz mit Vincents Schwester Gedanken der Sterblichkeit und des Verfalls.
Die Sehnsucht Vincents nach Freiheit, Aufbruch und Weite manifestiert sich auch bei der Ankunft im Haus am Meer, als er in der Nähe der Kaimauer mit Gilles über den Kampf zwischen Land und Meer streitet:15
C’est la terre qui l’emporte, Vincent.
C’est l’eau.
La terre, les constructions. Regardez les maisons, là où courait le fleuve, au siècle dernier, construire est finalement plus durable.
Non, c’est détruire.16
Der kurze Redeausschnitt lässt die disparaten Standpunkte klar hervortreten. Gilles sieht sich durch den Prozess der Landgewinnung in seinem Glauben und Vertrauen auf die konstruktiven Kräfte des Menschen bestätigt und in seiner Suche nach Sicherheit und einem festen Grund ermutigt. Konsequenterweise hält er die schützende Bucht für „menschlicher“ als das bedrohlich wirkende Meer.17 Durch die Lage des Hauses mit seiner Nähe und seinem Abstand zum Meer ist Gilles prädestiniert, zwischen den extremen Positionen Vincents und François’ zu vermitteln. Während letzterer explizit erklärt: „Je n’aime pas la mer […]. Je ne l’avais pas revue, depuis.“18, fühlt sich Vincent von der Macht des Wassers und der unendlich anmutenden Weite des offenen Meers – le large – angezogen. Die unterschiedlichen Positionierungen der beiden letztgenannten Figuren korrespondieren mit ihren schon zuvor deutlich gewordenen Einstellungen zum Aufbruch.
Im Haus am Meer – Aufklärung und tragisches Ende eines Beziehungsdramas
Die Erzählinstanz nutzt das Treffen im Haus am Meer, um das zwischen den vier beteiligten Figuren entstandene Beziehungsdrama aufzuklären. Die Bedeutung von Raum und Bewegung ist dabei einerseits im Rückblick auf den Aufenthalt Vincents und seiner Schwester in Brasilien von Bedeutung, andererseits im Hinblick auf die von Hugo gewählte Art des Suizids.
Auf das in Brasilien offenbar gewordene und vollzogene inzestuöse Verhältnis zwischen Vincent und seiner Schwester wurde bereits verwiesen. Vincent bekennt sich zu dem Geschehenen gegenüber Hugo in einer umfangreichen Erklärung während eines Spaziergangs, der die beiden vom Strand zurück zu Gilles’ Haus führt.1 Für die Analyse ist entscheidend, ob und ggf. wie Vincent in seiner Erzählung einen Einfluss räumlicher bzw. den Raum prägender Faktoren auf das Geschehene geltend macht.
Vincent und seine Schwester befinden sich an einem Strand in Rio, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich ein Armenviertel befindet. Die aus den Favelas die Hügel hinab-steigenden ausgehungerten Kinder wirken auf die beiden „[…] comme des animaux sauvages pour bondir sur leur proie, mais leur proie, ce n’est qu’un peu de viande à manger, du pain, un peu de sel, n’importe quoi pour remplir le vide […]“2. Als Vincent und „sie“ einen ganz in Weiß gekleideten Mann erblicken, der soeben seinem Segelboot entstiegen ist, die Straße überquert und dann in der Masse der Armen verschwindet, vermuten beide, dass dies seinen Tod bedeutet. Eine Bestätigung haben sie indes nie bekommen. Und in genau diesem Moment setzt eine Entwicklung ein, die Vincent als eine Abfolge schicksalhaft vorbestimmter, unabwendbarer Ereignisse beschreibt:
La même idée nous habitait au même moment et, à quel point un geste peut paraître stupide quand on le dit, nous nous sommes pris la main. C’était la veille de son départ, Hugo. La suite était inévitable, inévitable depuis le commencement, la seule surprise était que ce ne soit pas arrivé plus tôt. Nous avons eu vingt-quatre heures ensemble […] vingt-quatre heures de vérité contre une vie de faux-semblants. Il ne sert à rien de se cacher les choses, tout finit par se découvrir et par arriver, les désirs les plus fous savent attendre leur heure, même le délire a de la patience.3
Unausgesprochen bleibt, weshalb sich Vincent und seine Schwester ihrer – wohl seit langem gespürten – intensiven Zuneigung füreinander in einem Augenblick voll bewusst werden, in dem sie das unmittelbare Nebeneinander von Armut und Reichtum, den Aufeinanderprall zweier Welten erleben. Insinuiert wird, dass der bezeichnenderweise weiß gekleidete und damit Reichtum und vermeintliche Unschuld verkörpernde Mann den hungrigen Kindern, die „[…] la faim mène à tout, au désespoir, au vol, au meurtre […]“, im Schmutz der Favelas zum Opfer fallen wird. Denn „[…] si quelqu’un s’interpose entre le pain et la faim […] il faut l’éliminer.“ (Hervorhebung H.H.)4 Dass das unmittelbare Erleben bzw. Erahnen sozialer Ungerechtigkeit und daraus resultierender Gewaltakte in Vincent und seiner Schwester als Beobachtern den Wunsch nach Schutz und Nähe, Geborgenheit und Liebe weckt, ist plausibel. Naheliegend ist jedoch auch ein durch das binnenreimähnliche phonetische Echo zwischen „le pain“ und „la faim“ hervorgerufener Bezug zwischen der instinkthaft-triebgesteuerten Handlung der qualvoll hungernden Kinder, die den in makellosem Weiß gekleideten Mann aus schierer Verzweiflung töten, und der sich am Strand zwischen den Geschwistern abspielenden Szene, in der sich in einem enttabuisierenden Ambiente ein über Jahre verdrängtes erotisch-sexuelles Verlangen – la faim – triebhaft Bahn bricht. Zur Geltung gelangt somit hier die im Werk Cécile Wajsbrots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung, dass „…Räume und Raumkonstellationen immer auch handlungsauslösende oder -determinierende Faktoren [sind], und zwar allein schon wegen der in und zwischen ihnen stattfindenden Bewegungen“5.
Die Erzählinstanz bedient sich sodann einer raummetaphorischen Bildersprache voll intensiver Emotionalität, um Vincents Verstört- und Aufgewühltsein über den unwiderruflichen Verlust seiner Schwester zum Ausdruck zu bringen.6 Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob „[…] la scène qui le hantait depuis l’accident[…]“7, also der Vollzug der inzestuösen Liebe, eine Fortsetzung gefunden hätte und „sie“ dies gewünscht hätte. Er erinnert sich, dass er sich vor der intimen Begegnung mit ihr täglich darum bemüht hatte, sich der von ihr ausgehenden erotischen Faszination zu entziehen, indem er das sich wie eine „forteresse“ ausnehmende Verhältnis zu ihr nur umkreiste oder sich weit entfernte, um sie nicht zu sehen, die Gedanken an sie zu verdrängen. Dies erwies sich jedoch als ebenso aussichtslos wie der Versuch, „den Horizont zu überschreiten“, und in Brasilien führten alle Wege unweigerlich bis in das Zentrum – vers le cœur – ihrer sich bislang festungsartig verschließenden, sich nun aber öffnenden und frei entfaltenden Beziehung:
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