Einheit ist für Paulus demnach eine konstitutive Komponente für die christliche Gemeinde. Sämtliche von ihm gewählten ekklesiologischen Metaphern spiegeln dies wider. Besonders in seinen Ermahnungen macht er deutlich, dass dies gerade eine erhöhte, nicht etwa eine geringere Verantwortung des Einzelnen nach sich zieht. Denn die Einheit fußt gerade nicht auf Gleichheit der einzelnen Beteiligten, sodass der Einzelne nötigenfalls austauschbar wäre, sondern auf dem reibungslosen Mit- und Füreinander der unterschiedlichen Menschen mit ihren Begabungen und Funktionen. Dies gilt für die Gemeindeleiter (1Kor 3) ebenso wie für die Glieder der Gemeinde (1Kor 12).
Betrachtet man nun konkret Gal, so begegnen Einzigkeits- und Einheitsaussagen v.a. in Kp. 3: Um die Erlösung vom Fluch des Gesetzes zu erklären, erweist Paulus Christus als den einen Nachkommen (ἀλλ ὡς ἐφ ἑνός· καὶ τῷ σπέρματί σου [3,16]) und damit Erben der Verheißung an Abraham. Seine entscheidende Interpretation der Nachkommensverheißung4 als Singular (τῷ σπέρματι αὐτοῦ [3,16]) verbindet Paulus über die Vokabel εἷς/ἕν5 mit zwei anderen Schlüsselstellen des Kapitels, welche beide die Einzigkeit betonen: ὁ δὲ μεσίτης ἑνὸς οὐκ ἕστιν, ὁ δὲ θεὸς εἷς ἐστιν (3,20). Diese argumentative Eröffnung läuft schließlich auf πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (3,28d) hinaus – auf Grund der Einzigkeit der Stellung Christi (3,16) und der Einzigkeit Gottes (3,20) wird diese nun auch für alle Getauften postuliert. Wenn Christus der eine Nachkomme ist und nun auch für alle Χριστοῦ gilt, dass sie τοῦ Ἀβραὰμ σπέρμα […] κατ ἐπαγγελίαν κληρονόμοι sind, dann können sie dies nur (als) εἷς sein (3,28f).
Paulus leitet aus der Einzigkeit Gottes und dessen einzigartiger Einheit mit Christus auch Einheitsqualitäten für die Christen, hier Getauften, ab. Dass sich Paulus unter dieser Einheit qualitativ etwas anderes vorstellt als die bloße Summe oder Gemeinschaft der einzelnen (Bestand-)Teile erweist sich dann in 6,15 – ein Vers, der wie 3,28a von der (bleibenden) Verschiedenheit Beschnittener und Unbeschnittener ausgeht: οὔτε γὰρ περιτομή τί ἐστιν οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ καινὴ κτίσις.
1.5.4.3 Personale Einheitsvorstellungen
Wenn εἷς der Einheitsvorstellung einen personalen Akzent verleiht, so bleibt abschließend zu fragen, welche der dargelegten neutestamentlichen Einheitskonzepte personal verstanden werden und als Deutungsmuster für 3,28d dienen können: 1) Die Einheit von Gott/Vater und Christus: Von dieser besonderen Art der Einheit – oftmals ausgedrückt durch reziprokes „ἐν-Sein“ – soll auch die Einheit der Anhänger ausgehen. Jedoch findet sich dieses Konzept lediglich in den Evangelien, speziell Joh, und zudem sagt es zwar eine Einheit von Personen aus, jedoch hat diese Einheit selbst keinen personalen Charakter. 2) Die Leib-Christi-Metapher: Die Grundmetapher dieser ekklesiologischen Vorstellung des Paulus ist ein menschlicher Körper, der buchstäblich davon lebt, dass seine Glieder sich ergänzen und darin auf grundlegende Weise untereinander verbunden sind.1 3) Ein Leib mit der Prostituierten: […] ὅτι ὁ κολλώμενος τῇ πόρνῃ ἓν σῶμά ἐστιν (1Kor 6,15–17). Die auf Gen 2,24 Bezug nehmende Vorstellung, dass die Vereinigung mit einer Prostitutierten so eng verstanden wird, dass sie als ein Leib bezeichnet werden kann, hat bei Paulus ihre eigentliche Pointe darin, dass sie zur Vereinigung mit dem κύριος in Konkurrenz steht, welche als ἓν πνεῦμα bezeichnet wird. Ebenfalls beachtenswert ist, dass Paulus die Vorstellung an die Glied-am-Leib-Christi-Metapher anbindet.
Die Einzigkeits- und Einheitskonzepte des NT bewegen sich demnach – von den benannten drei Ausnahmen abgesehen – in einer apersonalen Bildwelt. Schaut man sich sodann die Einheitsmetaphern der frühen christlichen Schriften an, so findet sich auch dort eine Fülle an bildlichen Umschreibungen – die allerwenigsten jedoch sind spezifisch personal zu verstehen.2
Will man εἷς in 3,28d demnach als (männliche) Person verstehen, was die textkritischen Überlegungen als wahrscheinlich gemacht haben, so verbleiben zwei Aussagevarianten zur Wahl: 1) εἷς meint den Leib Christi . Und das in 1Kor 12 und Röm 12 ausführlich entfaltete paulinische Konzept steht hier bereits hinter der knappen Formel. Dagegen spricht m.E., dass das σῶμα Χριστοῦ dann als ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ zu verstehen wäre und zudem das Konzept den Adressaten bekannt gewesen sein müsste, um für das Verständnis einer derartigen Verkürzung vorausgesetzt werden zu können. Wahrscheinlicher ist: 2) εἷς ist zu verstehen im Sinne von „wie ein einziger Mensch bzw. Organismus“ , welcher – anders als eine sächliche, unbelebte Gruppe – mehr ist, als die bloße Summe seiner Teile, sondern (lebens-)notwendigerweise auf das Zusammenwirken aller „Beteiligten“ angewiesen ist. Hierbei handelt es sich um ein bekanntes Motiv, das sich in sämtlichen ekklesiologischen Bildern bei Paulus wiederfindet. Dies aber liegt begründet in der Taufe εἰς Χριστόν und ist zugleich aufgehoben ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. Dass eine Unterteilung der Gemeinde in Gruppierungen, wie sie etwa in Gal 3,28a–c aufgezählt werden, grundlegend lebenszerstörend wirken kann, wenn nicht komplett unmöglich ist, findet sich wieder in 1Kor 1,12f. Wenn dieser Mensch dort wie auch in 1Kor 12 mit Christus identifiziert wird, kann als Weiterentwicklung der hinter Gal 3,28d stehenden Tradition verstanden werden. Entsprechend entfaltet Paulus an dieser Stelle dann auch die ursprüngliche Metapher einer personalen Einheit ausführlich über dessen einzelne Glieder und deren Funktionen.
1.5.4.4 Einheitsvorstellungen in paulinischen Taufstellen
Nicht zufällig finden sich an allen drei Stellen Bezugnahmen auf die Taufe. Dazu sei noch eine letzte Wahrnehmung festgehalten: Obwohl die Taufe als Initiationsritual zuerst ein Ritual für und am Individuum ist, ist 3,27f (eigentlich gesaMt 3,23–29) plural formuliert und zwar in der 2. Person Plural (3,27a.b.28d). Die einzigen singularen Bestimmungen (3,28a–c) sind, als vergangene Realität, negiert. Dass dies nicht allein der rhetorischen Situation der Ansprache einer Gemeinde im Brief geschuldet ist, sondern einen beachtenswerten Interpretationsfaktor darstellt, untermauern v.a. zwei Aspekte: 1) Paulus wechselt den Numerus, wenn es ihm rhetorisch-argumentativ sinnvoll erscheint , indem er bspw. in die Ich-Perspektive übergeht. 2) Sämtliche paulinische βαπτίζω-Aussagen sind im Plural formuliert . Grund dafür ist nicht, wie oft behauptet, der formelhafte Charakter der Aussagen. Denn es lassen sich Belege für alle drei Personen im Plural finden: ἐβαπτίσθημεν (Röm 6,3; 1Kor 12,13), ἐβαπτίσθητε (Gal 3,28d; 1Kor 1,13.15), ἐβαπτίσθησαν (1Kor 10,2).1 Teilweise lässt sich sogar der dezidierte Wechsel vom voranstehenden Singularduktus in den Plural beobachten.
Gibt es also eine inhaltliche Implikation, vom Getauftwerden stets im Plural zu sprechen? Dass die Erfahrung von Massen- oder zumindest Gruppentaufen einzige Ursache des pluralen Sprachgebrauchs sein soll, widersprechen Berichte, welche die Praxis von Einzeltaufen belegen (Apg 8), nicht zuletzt die eigene Taufe des Paulus (Apg 9).
3,28d steht, wie bereits dargelegt, in vielfältigen Beziehungen zu seinem Kontext und damit im besonderen Fokus der Perikope. Das dort postulierte Eins-Sein in Christus ist aber nun nicht irgendeine Wirkung der Taufe neben anderen, sondern muss als ihre Grundbestimmung verstanden werden: Getauft zu sein, bedeutet „eins zu sein“ – eine Erfahrung und Realität, die der Einzelne (allein) nicht machen kann. Dies unterstreichen auch die vorangehenden wie folgenden Qualifizierungen der Getauften: υἱοὶ θεοῦ ἐστε (3,26), τοῦ Ἀβραὰμ σπέρμα ἐστε […] κληρονόμοι (3,29). Gemeinsam sind sie Söhne Gottes, Nachkommen Abrahams und Erben der Verheißung und zwar durch und damit auch im Gegenüber zu dem einen Sohn Gottes, dem einen Nachkommen Abrahams (3,16.19) und dem einen wahren Erben der Verheißung (3,22).
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