Das Jahr 2013 war mir Plage genug, es erfordert noch allerlei Reinigung, auch wäre mir das Verantworten von Briefen anderer, die konsultiert, befragt, beschnitten werden müssten – zu schwer, mitunter lästig, wobei ich deren Zustimmung weitgehend voraussetzen dürfte. Es wäre alles zu umständlich, vor allem zu umfangreich, und – lese ich mit Deiner Nase – es scheint auch wenig dafür zu sprechen. Nicht jeder, der gern Briefe schreibt, ist hinlänglich Briefschreiber.
Es gibt Menschen, die gern mit mir korrepondieren, das merkt man ihren Briefen auch an, manche entwickeln eine Stimme, manche hallen wider oder hauchen ihren Geist brieflich aus. Das wäre eine Studie für sich. Die herrschende Meinung ist dem Brief eher abgeneigt, die Neigung gilt dem Briefwechsel, auch wenn der Wechsel ohne Deckung bleibt. Das würde ein verlegerisches Problem ergeben, wie die Anmerkungen auch, die ich mir so gern sparen möchte. Ich könnte freilich andere Konzeptionen verteidigen, aber nicht gut genug darstellen. Es bleibt – anders als „Vielzeitig“ – die Geschichte meines Alterswerks und meines Alterns, mit der dazu geschaffenen Umwelt und vielen Nebenstimmen. So interessant oder eigenartig dies sein mag (mit Einsichten noch und noch), es bewegt sich in einem engen Interessenkreis und letztlich um einen wenig bekannten Autor.
Die hinreißenden Stellen sind wenige, denkbar wären kleine Auszüge als Vorspann – oder als Anmerkung oder im Anhang. Meine Briefe – streng ausgewählt, die Auswahl wieder gesiebt – und die Briefe selbst gut gekürzt. Widme bitte auch dieser Vorstellung einen Gedanken, ehe ich mich zu einer Konzeption entschließe. Ich möchte gern von editionellen Begriffen weg, doch gerade bei Briefen fürchten Verleger die (meist nicht vorhandenen) Editionskritiker, es gibt ja in der kritischen Welt nichts Leichteres zu kritisieren/bemängeln als einen Briefband (ein falsches Datum, eine alte Schreibart, das Fehlen eines Namens im Register, „ein Vergleich mit ergäbe …“). Es ist eben schwer, mit einem Briefband die Unvergleichlichkeit zu erreichen. Gut, dass es mir in der Aphoristik glückte, da konnte ich aber auch taktieren.
* H. G. Adler, Hans GünterAdler (1910–1988), deutschsprachiger Prager Schriftsteller; vgl. Allerwegsdahin, S. 92; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 51; vgl. Aberwenndig, S. 93 mit Anmerkung
** Oskar Loerke, OskarLoerke: Zeitgenosse aus vielen Zeiten. Berlin: S. Fischer 1925
*** EB: Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel; vgl. Treffpunkt Scheideweg, S. 34; Loerke, OskarLoerke: Zeitgenosse aus vielen Zeiten, S. 206–215; vgl. Olivenbäume, S. 301
**** Emmy Hennings, EmmyHennings (1885–1948), Schriftstellerin und Kabarettistin; gehört mit ihrem Ehemann Hugo Ball, HugoBall (Heirat 1920) zu den Begründern des Dadaismus.
***** Lotte Pritzel, LottePritzel (1887–1952), Puppenkünstlerin, Kostümbildnerin und Zeichnerin
An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 13. Mai 2015 Nr. 21
Dein Brief hat mich einigermaßen erschüttert, weil es das Bild Deines Lebens, wie es ist und wie es war, wiedergibt: Alle Ecken und Enden finden sich in den Brief ein. Der freie Blick des über Paris schwebenden Geistes des Romanisten, das fliehende Gedächtnis, der suchende Blick, der noch sieht, was nicht verborgen bleiben kann: die Rothschild-Schule, die Lage also und der Rückknüpfung [?], alle Bemühungen um Freiheit und Änderungen, die Dich auszeichneten, das Vertrauen im Experiment, die Verbrüderung jener, die irgendwann wieder aufhören, Brüder zu sein, weil sie „stämmig“ werden und streng um Abgrenzung bemüht sind, Territorium, Acker, Quelle, Brunnen, Wüsten und Verwüstungen. Das alles ist in Deinem Brief zusammengeklagt. Man verspricht nicht mehr, zu leicht könnte man sich versprochen haben.
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 8. März 2016 Nr. 22
Über Wert und Bedeutung von Briefwechseln müssen wir einander nicht überzeugen. Welcher Verlag gäbe Lavater, Johann KasparLavaters Briefwechsel* heraus, was muss alles geschehen, geleistet, zusammengetragen werden, um einen Briefwechsel herauszubringen, den manche erforschen werden, niemand aber lesen wird? Gedacht wurde schon viel über Briefe und Briefwechsel, umgedacht nicht genug. Da stehe ich mit meinem kümmerlichen Briefwechsel. Nötig ist eben der Wechsel – aber nicht nur der Briefe. Als Erkenntnis gebe ich zu überlegen, dass nichts über die Vollständigkeit eines Briefwechsels Goethe, Johann Wolfgang vonGoethe-Schiller Schiller, Friedrichginge, damit wäre aber nicht gesagt, dass die Briefe Goethes oder Schillers allein gerade die Hälfte wären. Sie zählen nur weniger, wiegen aber jeder für sich schwer genug.
* Ab 2018 wird im Rahmen eines Schweizerischen Nationalfonds-Projektes eine historisch-kritische Ausgabe einer Auswahl aus Joh. Caspar Lavater, Johann KasparLavaters Briefwerk vorbereitet; vorgesehen sind zehn Bände. Diese werden, wie schon die Ausgewählten Werke Lavater, Johann KasparLavaters, im Verlag der Neuen Zürcher Zeitung erscheinen.
An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 21. Mai 2016 Nr. 23
Ich schicke Dir die erste Auswahl*, die müsstest Du nun strenger durchkämmen. Das Endziel, denke ich, soll ein Arrangement sein, das deute ich mit den ersten Auszügen an: Brief – Freundschaft – Werk.
Meine Stimme ist die häufigere und die lautere, sie müsste gedämpft werden. Nun sage ich Dir etwas, das Du von mir kennst, das Dir aber – nach wie vor fremd ist: „Gedruckt“, was und wie auch immer – bedeutet: Text, Lesestoff, Literatur. Und Literatur muss schön und gut oder gut und schön sein. Die Verantwortung des Autors gilt dem Text gegenüber, ist er gut (geworden) – hat er seine Pflicht erfüllt.
Unsere Freundschaft besteht, ist ein Faktum, unantastbar, die Briefe sind ihr Ausdruck – unveränderlich: In der Intimität und posthum . Die Veröffentlichung ändert daran nichts, aber das dritte Auge der lesenden Neugier, das die Intimität weniger interessiert und von Dichtern möglichst Dichtes erwartet, zumal in einer rein literarischen Umgebung, wie die einer Festschrift. Alles, was im Leben gilt, gilt auch in der Literatur und für uns, z.B. Kosmetik. Du gebrauchst sie im Leben, sollst sie auch in der (Brief-)Literatur gebrauchen dürfen, Du korrigierst ja auch andere Fehler. Ob ich damit Recht habe? Es ist keine Rechtsfrage, ist Kosmetik und gehört zur schönen Literatur wie zum schönen Leben. Ich spreche von Briefen, nicht von Briefeditionen, von Ästhetik, nicht von Philologie. Ich schreibe, wie es kommt, und sage, wie es ist, das Schreiben vor Augen und hinterm Ohr. Wie immer Du duftest, wie gut Du dich schminkst, wir werden uns treffen. Oder einander verfehlt haben. Du bist der Brief.
Dies zur Erklärung meines Standpunkts, Deiner bleibe, wie er ist, tadellos und unantastbar.
Was ich von Dir bitte: dass Du Dir ein Wunschbild vom Beitrag machst; dass Du streng auswählst und ohne Rücksicht kürzest und streichest. Denk an Dich, an mich nur, wenn und wo unumgänglich. Vor allem muss Deine Stimme vernommen werden. Du wirst erkennen, was du gern gesagt hast oder wieder gern sagen würdest. Wenn Du die Redaktion in dem Sinne durchgeführt hast, setze ich die Auswahl fort.
* Elazar Benyoëtz – Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser: Die Freunde des Dichters machen die Lesbarkeit seines Werkes aus. Aus dem Briefwechsel 2004–2016. In: Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser: Porträts, Lesarten und Materialien zu ihrem Werk. Hg. von Klaus Isele, KlausIsele. Norderstedt: Books on demand 2016, S. 56–84
A Das Netz der Beziehungen
II „Lebten wir in Zeit und Geist genössisch?“ – Zeitgenossen
Von Manfred SturSturmann, Manfredmann, 8. September 1966 Nr. 24
Ich freue mich, dass Sie das bibliographische Material nunmehr für Ihr Archiv beisammen haben.
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