Es war wohl nicht anders möglich, als all diese Konflikte auch in den Briefwechsel hineinzutragen. Ich bin der einzige, der das tun kann, nicht darum auch der geeignetste. Der Verleger* wünscht sich Briefe zum Werk, er sieht es neutral, objektiv vor sich, die Briefe sollen dessen Erschließung dienen, zugleich aber eine andere von mir gepflegte „Gattung“ zum Bewusstsein bringen. So würde er denken, meine ich, er hat sich nicht näher darüber geäußert, er verlässt sich auf mich. Briefe zum Werk, Werk für Werk, lassen sich leicht finden und aneinanderreihen. Aber lässt sich das wirklich von „meinem Weg“ trennen? Und könnte daraus ein Buch werden, das man mit Anteilnahme liest?
Die Gefahr liegt nahe, es bliebe schematisch und steif. Der mythologische „Leser“ will dem Werk nicht auf den Grund, sondern auf den Hintergrund kommen. Auch ich wüsste gern, was hinter diesem Werk gestanden haben mag. Die Wahrheit kann ich freilich nicht liefern, aber ein Bild, das nach und nach korrigiert werden könnte, am Ende korrigiert werden müsste. Ein Bild, aber auch viele verschiedene Selbstbildnisse, die dazu gehörten, nicht Stimmen allein. Unter den Briefen Deiner Sammlung befinden sich nicht wenige davon, Du bekommst den Schreibenden zu sehen, und diese Briefe an mich sind mir die liebsten. Namen sind mir teuer, mit vielen verbindet mich Dankbarkeit; die Freunde machen die Lesbarkeit eines Werkes aus. Genug, Du weißt Bescheid und kannst so weiterfahren. Wenn Du am Ende bist, wird sich ein Bild einstellen, das uns zeigt.
Zur Frage: „Muss das jetzt schon publiziert werden? Wir leben doch noch“ –
Die Antwort: Wir leben doch noch, und es muss nicht schon publiziert werden; es ist aber auch die Ausnahme, dass wir es publizieren dürften. Die Publikation wird unsere Freundschaft nicht zerstören, und die Briefe sind alle längst geschrieben. Sie können im Schatten bleiben oder ins Licht gehoben werden. Meine Ansicht: Was zum Leben gehört, bleibe in der Pflege der Lebenden. Was zur Diskretion des Gelebten gehört, bleibe diskret. Darüber hinaus schreiben wir einander nicht anders, als wir miteinander sprechen, und das tun wir immer so und nicht anders, auch wenn man uns zuhört. Wer an unserem Gespräch teilnehmen mag, soll daran teilnehmen können, andere werden es nicht lesen, weil es sie nicht interessiert. Wir sprechen miteinander, wie ehrliche Freunde miteinander sprechen, das ist nicht Literatur, aber denkwürdig genug. Als Freund gehörst Du auch zu meinem Werk, nicht nur zu meinem Leben.
* Olivenbäume. Braumüller
An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 11. März 2011 Nr. 8
Ich habe mich an Deinen Rat gehalten, habe nicht alles weggegeben*, und doch unendlich mehr als vorgesehen und von mir verlangt: übereifernd mich auf die Probe stellend. Denn dazu wäre ich – als Sammler und nicht Wegwerfer – vor weniger Zeit gar nicht fähig gewesen. Dein „Gebot“ war: Trennung für immer, ohne Wehmut. Ohne Sehnsucht. Mein gestriges Gefühl und heutiger Gedanke sagen mir, dass ich mich nach den „Materialien zu meinem Leben und Werk“ nicht sehnen werde. Ich sehe auch den Wert des Hinterbleibens – nicht des Bleibens, das einzig einem Werk einverleibt werden könnte – und habe, um mir das sagen zu können, unseren Briefwechsel vor Augen, der mir als Gewissen galt und nun Gewissheit geworden ist. Das ist das Herz meines literarischen Nachlasses, nicht nur, weil Du mein Begleiter warst, sondern, weil ich ohne Deine Begleitung nicht gewissenhaft am Werk hätte bleiben können. Das war mir die Bedeutung unseres Briefwechsels und ist mir „im Voraus“ eine Genugtuung, dass unsere Nachkommen davon wüssten. Es fiel mir nicht leicht, den Briefwechsel aus der Hand zu geben, aber nun sind wir beide alt genug, und wir bleiben bei- und füreinander, solange wir leben. Es fügte sich, dass ich eben jetzt (mit der 30. Fassung) mein Buch abgeschlossen habe.** Jetzt könnte es Dir gefallen.
* Briefwechsel an das Brenner-Archiv
** Olivenbäume
An Riccarda Tourou, RiccardaTourou, 3. Januar 2013 Nr. 9
Hältst Du Dein Wort, machst Du Halt; haltbar wird, was sich entziehen will. Hältst Du mein Wort, habe ich Deine Gesichtszüge in Händen. „So fremd bist Du mir, wie nah. Die Nähe erträgst Du nicht, die Fremde ist mir schwer. An der Entstehung Deiner Bücher mithelfen zu dürfen ist meine Erfüllung.“* Das sind abfahrende Gesichtszüge, die ihre Stationen haben. Das gerichtete Wort ist das geeignete Mittel der Physiognomisierung. Ich spreche zu Dir, damit Du dich zeigst. Das magst Du nicht, Du weigerst Dich. Man zeigt sich nicht, lässt sich ja auch nicht gehen, bleibt lange auf der Hut, länger auf der Lauer. Sich zeigen, das käme einer Anzeige gleich. Ehe man sein Gesicht zeigt, spricht man sich aus, man ist ausgesprochen da – und ist nicht in Sicht getreten. Ich wende mich an Dich, werde Dir eine Wand: Du lehnst dich an ihr, kannst durch sie auch gehen. Der korrespondierende Augenblick tritt ein, in dem dies möglich wird. Dann hast Du Dich gezeigt, und ich verhalf Dir dazu. Deine Gesichtszüge, einige von ihnen, bleiben in meinen Briefen unverwischbar für immer. Du tratest in Sicht und bist zu lesen.
* Brief von Riccarda Tourou, RiccardaTourou, 3. Januar 2013
An Ingeborg Kaiser, IngeborgKaiser, 7. Januar 2013 Nr. 10
Ungefähr dürfen wir zehn Jahre feiern, weil es aber fraglich ist, bekommst Du ein fragwürdiges Geschenk: unseren Briefwechsel, so weit von mir übertragen und gehütet und im PC gespeichert. Es könnte Gewinn bringen, je nach dem. Ich habe nichts redigiert, einiges – rein technisch – korrigiert, von meinen (oft erschreckenden) Textflächen einiges weggeschnitten, das Übrige kannst Du selbst tilgen, für das erste Bild ist doch wichtig zu sehen, wie viel an Flächen ich Dir zugemutet habe, dafür sind fast alle Deine Gedichte der Reihenfolge nach erhalten. Es ist nicht uninteressant zu sehen, was alles in dieser Zeit – also auch mit und zwischen uns – an Literatur entstanden war. Manche Briefe ließ ich in der Originalform (und Farbe), die Gedichte habe ich in keinem Fall angetastet, der Rechtschreibung aber angepasst. Es ist ja keine Edition, und bei mir suche man auch keine Konsequenz. Ich lese gern in verschiedenen Ausgaben und zitiere ebenso gern aus verschiedenen, mir ist alles Schreiben recht, solange man nicht vergisst, „dass Tonfälle Gesten, dass Begriffsinhalte Blicke sind, die nachgelebt und nachgebärdet, nicht nur abgelesen und abgeschrieben werden können“ (Friedrich Gundolf, FriedrichGundolf).
Es ist das Dokument unserer Freundschaft, mit allen Steigerungen.
An Riccarda Tourou, RiccardaTourou, 10. Januar 2013 Nr. 11
Mit den Briefen hat es noch seine Berechtigung, denn unleugbar spielten die Briefe in meinem Leben und Werk eine entscheidende Rolle: Sie ist meinem Werk abzulesen, und mit den zwei Briefbänden* habe ich für eine spätere Aufmerksamkeit ja auch gesorgt. Zwingend wäre ein weiterer Band nicht, doch eher als Bände anderen Genres gerechtfertigt. Für die Erschließung meines Werks wäre damit etwas getan, was sonst nicht mehr getan wird. Selbst wenn ichs vom Wiener Literatur-Archiv erwartete. Archive bewahren, geben nicht weiter, wenn nicht „einer“ initiativ wird. In meinem Nachlass ruhen umfangreiche Manuskripte, die nicht zur Geltung kamen, die ich mir „brennend“ herausgebracht wünschte und von denen ich nie bereut habe, dass sie liegen geblieben sind. Es muss auch mit dem Ehrgeiz aufhören, damit das „In-sich-gehen“ nicht allerwegs Phrase bleibe. Mein Werk kann auch „ungebilligt“ überleben. Die Briefe sind kein technisch zu bewältigendes Problem, auch das Vorhandene muss seine Konzeption entwickeln.
Erfahrungen sind gut im Umlauf, nicht gut im Umsatz. Ein Autor eignet sich am wenigsten dafür, ich bin dazu untauglich, denn ich kann nichts in Ruhe lassen, auch längst geschriebene Briefe nicht.
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