Herr Otto Heuschele, OttoHeuschele* hat sich in meinem „früheren“ Leben in rührender Weise bei meinem Start als junger Schriftsteller für mich eingesetzt. Da mir aber keinesfalls klar ist, welche Haltung er während der Nazizeit eingenommen hat, besteht von meiner Seite nicht die Absicht, die Verbindung mit ihm aufzunehmen. Wenn er mir schreibt, werde ich ihm selbstverständlich höflicherweise antworten.
* Otto Heuschele, OttoHeuschele (1900–1996), Schriftsteller, Essayist, Aphoristiker, Herausgeber; vgl. Brief Nr. 45
An Manfred SturSturmann, Manfredmann, 1. Oktober 1966 Nr. 25
Was Herrn Heuschele, OttoHeuschele betrifft, haben Sie gewiss recht. Wir werden ja sehen, ob er sich meldet. Gerechterweise will ich vorsichtig sein und ein Sich-nicht-Melden nicht gerade als Zeichen des schlechten Gewissens beurteilen. Indessen will ich aber den „Fall“ untersuchen. Ich dachte anfangs nicht daran, weil er mir, als ich kam, andeutete, Herr Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz*, den ich vorher gesprochen hatte, wäre doch nicht einwandfrei. So hielt ich ihn selbst für „einwandfrei“, was mir durch seine harmlose Erscheinung bestätigt zu sein schien. Nun aber will ich Ihnen noch einen anderen Gruß bestellen – von Georg von der Vring, Georg von derVring**, mit dem ich befreundet bin, den ich auch lieb habe. Er ist bestimmt einwandfrei***. Es geht ihm in letzter Zeit nicht gut, sogar so wenig gut, dass man kürzlich schon das entsetzliche Gerücht verbreitete, er wäre gestorben. So schlimm ist es aber nicht, er ist nur alt geworden und hatte sich einen Arm gebrochen. Er ist ein wirklicher Dichter, wenn auch die junge Generation solche Dichtung nicht mehr gelten lassen will. Deshalb bleibt er es dennoch, allen zum Trotz.
* Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz (1874–1969), Schriftsteller, Aphoristiker. Er arrangierte sich früh mit dem NS-Regime und wird wegen seiner zustimmenden Haltung zum Nationalsozialismus der NS-Literatur zugerechnet – so lt. Wikipedia
** Georg von der Vring, Georg von derVring ( 1898–1968), Schriftsteller und Maler; vgl. Die Eselin Bileams und KoheletKohelets Hund, S. 190 ; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 58
*** Bestimmt einwandfrei: „So vorsichtig prüfend ich mich glaubte, musste ich mir nach und nach das ,bestimmt ʻ sowohl als auch das ,einwandfreiʻ abgewöhnen; das geschah nicht ohne Folgen für meine Aphoristik.“ (An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 25.4.2018)
An Hildegard Schultz-Baltensperger, HildegardSchultz-Baltensperger, 13. Januar 1991 Nr. 26
Dank für das allermerkwürdigste „Du“-Heft*. Als ichʼs in der Hand hielt, dachte ich, ich hätte Deinen Brief nicht richtig gelesen, Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt könne doch unmöglich gestorben sein. Die Einleitung zum Heft las sich aber wie eine melancholische Ironie, als würden Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt oder seine Seele irgendwo im Raum über uns schweben. Das tat sie dann also auch. Ein Zusammentreffen von Datum und Seele in einem Zwischenraum. Voreilig schickte ich Christoph Grubitz, ChristophGrubitz** zum Neujahr eine aphoristische Auswahl aus Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatts Werken (Diogenes-Büchlein)*** mit meinen verdrossenen Anmerkungen. Ich glaube nach wie vor, dass Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt groß im Großen ist, aber nicht im Kleinen. Unbegreiflich war es mir, wie er dieser Auswahl nur zustimmen konnte. Jetzt, nach dem Interview mit ihm, kann ich es verstehen. Die Schweiz hat ein Prachtexemplar seiner besten Gattung verloren, Israel einen seltenen, auch kostbaren, weil nur kritisch liebenden Freund.****
* Du – die Zeitschrift der Kultur. Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt (70). Tages-Anzeiger Zürich 1991. Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt starb im Dezember 1990.
** Vgl. Verzeichnis der Briefpartner(innen)
*** Das Dürrenmatt, FriedrichDürrenmatt Lesebuch. Herausgegeben von Daniel Keel. Mit einem Nachwort von Heinz Ludwig Arnold, Heinz LudwigArnold. Zürich: Diogenes 1991
**** Presseartikel „ Ich stelle mich hinter Israel“ (1973), Träger der Buber, MartinBuber-Rosenzweig, FranzRosenzweig-Medaille 1977, Ehrendoktorat Jerusalem
An Edith SilberSilbermann, Edithmann, 10. August 1991* Nr. 27
Nicht ich habe Margarete Susman, MargareteSusman** die „große Großmutter“ genannt, sondern Bodman, Clara vonClärle***, die sich selbst dann die „kleine Großmutter“ nannte. Sie war um fast zwanzig Jahre jünger als Margarete Susman, MargareteSusman, verehrte sie aber auch. Margarete Susman, MargareteSusman ist mir ganz natürlich Großmutter geworden, Bodman, Clara vonClärle wollte es sein, Annette Kolb, AnnetteKolb – die stolze Jungfrau („Ich war nie einem Mann erlegen!“) – war zu solchen Gefühlen nicht fähig, auch zu solchen Spielen nicht, aber zu anderen, wie eben mit dem „wilden Hebräer“ und seiner christlichen Schwester, das gefiel ihr, für das Geschwisterliche hatte sie im Leben wie im Werk Gefühl und Sinn, wir trafen uns auch öfter mit ihrem Bruder Paul. Sie war älter als Margarete Susman, MargareteSusman, und es gibt eine Briefstelle von Margarete Susman, MargareteSusman, in dem sie den Umstand mit Humor erwähnt, dass sie – meine Großmutter – nun auch die Großmutter meiner Schwester sein müsste. Das und anderes mehr können Sie in meinem Kolb-Buch lesen. Aber wie kommen wir zum Buch, da nun der Stiehm-Verlag eingegangen ist? Vielleicht finden Sie es im Ramsch.
Vor zwei oder drei Jahren erschien Annette Kolb, AnnetteKolbs Briefwechsel mit René Schickele, RenéSchickele, damit ist die Frage nach ihrem Antisemitismus laut geworden. Es ist eine Frage, aber eine für mich nicht mehr interessante, da ich nun alle meine Pappenheimer kenne. Antisemitismus lebt vom Hörensagen, vom Leichtsinn, aus Ignoranz und Charakterlosigkeit. Damit will ich seine Gründe nicht genannt haben, Annette Kolb, AnnetteKolb aber aus der langen Reihe der charakterlosen Schriftsteller herausnehmen. Das war sie in keinem Fall, in keinem Punkt; die Schwächen teilte sie mit vielen anderen. Die Stärke behält man für sich und zur Not. Sie gehört zu den besten, tapfersten und ehrlichsten Schriftstellern deutscher Sprache: auch hinsichtlich der Judenfrage; sie war sogar eine entschiedene und konsequente Zionistin, wovon man in Deutschland nichts wissen will; es ist leichter und billiger, für die große Europäerin zu schwärmen. Also bewährte sie sich im Leben und im Werk, für das sie in der Öffentlichkeit mit Namen und Gesicht, die sie hätte verlieren können, einstand. Mehr kann ich von einem Schriftsteller nicht verlangen. Kein deutscher Schriftsteller setzte sich mit einer Fußnote ein Denkmal, wie Annette Kolb, AnnetteKolb auf S. 176 ihres Romans „Die Schaukel“, Berlin 1934.****
Und schließlich ihre letzte Reise. Alle ihre illustren Freunde waren gegen ihre Reise; die 96jährige wollte von ihrem innigen Wunsch, das altneue Volk in seinem altneuen Land zu sehen, nicht lassen. Natürlich haben die Katholiken auch die Absicht ihrer Reise gefälscht, die Wahrheit darüber steht in meinem (vielverschwiegenen) Buch. „Dein Land ist schon mein Land geworden“ ist Annette Kolb, AnnetteKolbs letzte schriftliche Mitteilung an mich. Bodman, Clara vonClärle hatte mein Buch schon während seines Entstehens kennengelernt, sie zitiert mitunter sogar eine frühe Fassung, die im Druck nicht nachweisbar ist.
Unter welchen Umständen ich Margarete Susman, MargareteSusman kennengelernt habe, ist im Brief vom Oktober 1966 (aufgenommen in „Treffpunkt Scheideweg“, S. 115ff.) nachzulesen; wie ich zu Annette Kolb, AnnetteKolb kam – in meinem Buch „Annette Kolb und Israel“*****.
Zu Clara von Bodman, Clara vonBodman kam ich durch Empfehlung eines ehemaligen Nazis: Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz, den ich in Konstanz besuchte, da ich auf der Spur Fritz Mauthner, FritzMauthners****** war, dem er, der Dichter Wilhelm von Scholz, Wilhelm vonScholz, die Grabrede hielt. Scholz, Wilhelm vonScholz war ein Schulkamerad Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodmans, sie machten auch ihre ersten Schritte in der Literatur zu gleicher Zeit. Erst in der Nazizeit wandte sich Emanuel von Bodman, Emanuel vonBodman von Scholz, Wilhelm vonScholz ab. Ich kannte auch das Werk von Bodmans, vor allem aber wusste ich, dass er mit Gustav Landauer, GustavLandauer befreundet war, und die Briefe Landauers hatten mich interessiert. Nun sagte mir Scholz, Wilhelm vonScholz, die Witwe Emanuels lebe in der Nähe, in Gottlieben, und Frau Scholz – die mich herzlich gern loswerden wollte – telefonierte sogleich, und in zehn Minuten stand ich schon im herrlichen Treppenhaus in Gottlieben. Die Freundin, die mich dahin begleitete und dann wieder abholte, ist später meine Gattin geworden: eben jene, heute weitbekannte Miniaturmalerin Metavel (Ehefrau EBs)Metavel (vielleicht kennen Sie ihre „Haggada schel Pessach“, die bei Schocken herauskam). Clara von Bodman, Clara vonBodman wohnte wenigstens zweimal einem jüdischen Gottesdienst mit mir bei; ich erinnere mich an einen Jom-Kippur in Konstanz und an ein Wochenfest in Kreuzlingen. Durch ihren Besuch in der Synagoge in Kreuzlingen kam sie der Familie Robert Wieler, RobertWielers******* näher und wurde wiederholt eingeladen, den Schabbat mitzufeiern.
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