Zwei Verse früher wurden auch mit einem nunc begonnen, aber dieses bezog sich auf seinen echten Inhalt, nämlich Ovids Zeit; am Anfang des Verses 535 ist das ‚jetzt‘ nicht real, sondern mythologisch, wie man dank des danebenstehenden ait bemerkt. Dies ist das ‚nun‘ der Weissagerin und nicht das der guten Mütter, es ist die Gegenwart der Vergangenheit. Aber diese Vergangenheit, die Gegenwart geworden ist, bleibt nicht bei sich selbst, sondern sie richtet sich wie von einer Schleuder geworfen an die Zukunft, bzw. an die Vergangenheit und die Gegenwart der guten Mütter und der Männer des Landes in der Zeit von Ovid.
Der Dichter führt noch einmal die Erzählung weiter und schildert die Umstände. Aber sofort ergreift wieder die Prophetin das Wort und beginnt laeta (541) zu singen und von der Zukunft zu sprechen, die Ovids Leser gegenwärtig ist. Wichtig ist, zu beachten, dass eigentlich nicht Carmentis weissagt, sondern der Gott, von dem sie besessen ist und dem sie nur die Stimme leiht. In diesem Moment geschieht die Enthüllung der Namen, die den griechischen Ursprung preisgibt und die lateinische Gegenwart von Ino und Melikertes verrät. Ovid endet mit der Vergangenheit, nachdem die Gestalten ihren Namen geändert haben, und er führt sie bis zum Leser, bis zur Gegenwart (550): … hic deus, illa dea est.
In diesem Augenblick bricht die Rede ab und eine Antwort taucht auf, zu der nie eine Frage gestellt worden war: Ovid führt die guten Mütter in die Erzählung ein und stellt den Text als einen Dialog dar, von dem nur die Worte einer Gesprächspartnerin festgehalten sind; so findet die ‚Unterhaltung‘ mit Ino statt. In der Tat antwortet Ovid den guten Müttern, indem er Ino erzählt, was bei ihr eigentlich geschah; denn die Dienerin, die zur Geliebten Athamas’ wurde, war Inos und nicht Athamas’ SklavinSklavin. Der Aiolide ist untreu und heuchlerisch, weil er diese Verliebheit zuließ; er handelte nicht offensichtlich, sondern heimlich, wie Saturnia in Semeles Hain. Dann antwortet Ovid, indem er immer noch zu Ino, und zu den guten Müttern spricht, tritt in Athamas’ Haus ein und hört, wie die Dienerin Athamas die Arglist hinsichtlich des gedörrten Samens enthüllt. Die Stimmen erheben sich überall: Die Dienerin verrät Athamas Inos IntrigeIntrige; Ino leugnet es, aber der Ruf, die Sage, nimmt es an. All dies bringt Ovid zur Sprache, der auf eine Frage antwortet, und die guten Mütter sind die Zuhörer der Antwort. Einfach genial!
Darüber hinaus kann man eine gewisse Ringkomposition des Chors in diesem letzten Teil feststellen: Mütter – Ovid – Ino – Dienerin / Athamas / Ino / Ruf – Ino – Ovid – Mütter. Es scheint, dass der Dichter die Frage von den guten Müttern gestellt bekommt, aber er antwortet nicht ihnen, sondern Ino (558): hoc est cur odio sit tibi serua manus. Ovid nimmt das Wort wieder auf und mahnt die frommen Mütter: Sie (hier ergreifen sie noch einmal das Wort) müssen die Kinder anderen Leuten übergeben, denn utilior Baccho quam fuit illa suis (562). Und der Text schließt mit Bacchus, der als erster in der Textstelle angerufen wurde.
Interessant ist es, an dieser Stelle die in den Metamorphosen und den Fasten berichtete Erzählung der I-L-M-Version schematisch zu vergleichen, worauf Bömer in seinem Kommentar hinweist93:
Metamorphosen |
Fasten |
IV |
416 Überleitung: Bacchus in ThebenTheben (1) |
VI |
481–484 Thema: Mutter MatutaMatuta in RomRom (4) |
IV |
417–431 JunoJuno zürnt der Ino wegen ihres Stolzes und wegen SemeleSemele und Bacchus; Epische Begründung des Götterzorns (15) |
VI |
485–488 Junos Zorn, quod Ino paelice natum educet (4) |
IV |
432–473 Juno in der Unterwelt (41½) |
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IV |
473–511 Tisiphone (38½) |
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IV |
512–562 Athamas und Ino (51) |
VI |
489–502 Athamas und Ino (14) |
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512–519 Athamas und Learchos (7½) |
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489–490 Athamas und Learchos (2) |
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519–542 Ino und Melikertes (23½) |
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491–502 Ino und Melikertes (12) |
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543–562 Die comites der Ino (20) |
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Offensichtlich sollten auf Grund der in jeder Abteilung verwendeten Verse Junos Zorn, Athamas’ Wahnsinn und Inos Sprung in den Fasten als „Vorspiel (22 Verse) zu einer ausführlichen Erörterung der Situation im römischen Kult (48 Verse)“94 angesehen werden. In den Metamorphosen aber hat die Darstellung dieser Ereignisse einen epischen Ton. Auffällig ist, dass Ovid mehr als die Häfte der Geschichte (80 Verse von 147, wenn man die Szene der sidonischen Frauen mit eingeschließt) für Junos Reise in die Unterwelt und Tisiphones Angriff aufwendet. Wenn zu dieser Überlegung von Bömer auch die 20 Verse des in diesem Buch genannten ‚Anhangs‘ hinzugefügt werden (nämlich die Bestrafung der sidonischen Gefährtinnen von Ino), ergibt sich, dass mehr als 2/3 der ganzen Gechichte zu Szenen gehören, die sich nicht in der Tradition des Mythos befinden. Bömer meint abschließend, „diese neuen Szenen hier einzufügen war höchstwahrscheinlich Ovids eigene Konzeption“95.
Beide Texte haben unterschiedliche Ziele, weswegen sie sich auf unterschiedliche Aspekte konzentrieren: In den Metamorphosen werden Athamas’ Wahnsinn und Inos und Melikertes’ Divinisierung erzählt; in den Fasten aber soll der Kult zu Ehren von Mater Matuta in ihrem römischen Tempel im Forum Boarium berichtet werden, weswegen alles, was hier ‚I-L-M-Version‘ genannt wird, nur ein Prolog des echten Interesses von Ovid ist, nämlich die AbenteuerAbenteuer von Ino und Melikertes nach ihrem Sprung zu erzählen und noch konkreter ihre Erlebnisse in dem Gebiet, das eines Tages RomRom heißen wird.
Bemerkenswert ist es nun, die großen Unterschiede in der Zusammenfassung beider Textstellen zu beachten. In den Metamorphosen prahlt Ino mit ihrer Beziehung zu Bacchus und zu ihren Schwestern96; in den Fasten begründet Ovid selbst die gute Tat von Ino, nämlich die, auf ihren Neffen aufzupassen, nachdem ihre Schwester SemeleSemele verbrannt starb (demütiges Bild von Ino). In den Metamorphosen beklagt sich Juno aus vollem Hals97 über verschiedene Beleidigungen und sie betont Athamas’ Stolz und Inos Schmach; in den Fasten , in denen bis zur Ankunft von Ino und Melikertes in Italien keine Unterhaltung mit genauen Worten stattfindet – das heißt, dass man sich schon außerhalb der üblichen I-L-M-Version befindet –, bietet man nur ein Motiv für Junos Zorn an: Bacchus’ Erziehung (positives Bild von Ino). In den Metamorphosen schickt Tisiphone Athamas und Ino den Wahnsinn; in den Fasten ergreift der Irrsinn Athamas, aber man sagt nicht explizit – alles weist auf Juno hin –, wer ihn geschickt hat. In den Metamorphosen beschreibt Ovid ausführlich und auf grausame Art Learchos’ Tod; in den Fasten wird er kaum angedeutet. In den Metamorphosen lässt Ino Learchos unbestattet; in den Fasten begräbt Ino die Leiche ihres ältesten Sohnes (frommes Bild von Ino). In den Metamorphosen bittet VenusVenus Neptun, dass er ihre Nichte und ihren Urenkel zu Seegöttern macht, und Neptun gewährt ihr die Bitte; in den Fasten bittet kein Gott für Ino und Melikertes. Panopes (kleine Gottheit) Eingriff ist nur sehr kurz. In den Metamorphosen besteht man auf Grausamkeit und auf Tod; in den Fasten werden alle blutrünstigen Merkmale vermieden .
Letztendlich schließt Bömer (treffend m.W.): „So besteht kein Gegensatz zwischen den Met . und den Fasten , die Divergenzen gehen nicht auf verschiedene Versionen zurück, sondern auf die unterschiedliche Form und Intention der beiden Darstellungen“98. In den Metamorphosen will Ovid ja Junos Grausamkeit schildern, in den Fasten aber will er nur auf die am Anfang der Geschichte gestellten Fragen antworten.
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