Herkules und Ino haben ein ähnliches Erlebnis, ein gemeinsames Schicksal: Beide werden von JunoJuno verfolgt. Ino erzählt ihm nur einen Teil der Geschichte; Ovid sagt, dass sie den anderen Teil aus Scham zurückhält: Ihr ist es peinlich, eine solche Freveltat vor ihrem Sohn auszusprechen. Allerdings stimmt es überhaupt nicht mit Ovids Erzählung überein, dass Melikertes nur ein Säugling ist und er kein Wort verstanden hätte. Zum ersten Mal wird klar gesagt, dass sich Ino von den FurienFurien mitreißen ließ, was als ein deutlicher Hinweis darauf gilt, dass der furor auch in Athamas’ Frau wirkte. Nachdem Ino mit ihrer Erzählung fertig ist, fliegen die Gerüchte über sie überall hin. Und das Gerücht, das damals den Zeitgenossen Inos Erzählung bekannt machte, ist dasselbe, das den Römern vom 1. Jh. n. Chr. durch Ovids Darstellung Inos Geschichte erzählt.
Dann erscheint die Priesterin Carmentis, Evanders Mutter und Göttin des prophetischen carmen 64. Ino ist Gast in Carmentis’ Haus, in dem Athamas’ Frau die auf dem Herd gewärmten Kuchen isst. Dies ist die Antwort auf die zweite Frage: Die Römerinnen sollten Mater Matuta , die raffiniert mit Ino identifiziert wurde, Kuchen anbieten, weil Tegeas Priesterin dies damals bei Ino auch so getan hatte. Laut Frazen „[these cakes65] were baked by matrons in a hot earthen pot ( testu ); hence they were called testuacia “66. Bömer deutet an, „das Aition ist griechisch“67. Ein anderer Beleg dieser Kuchen ist in Varr. V 106VarroLL. V 106 zu lesen: Testuacium, quod in testu caldo coquebatur, ut etiam nunc Matralibus id faciunt matronae . Carmentis wird Tegea genannt, weil sie aus Arkadien kommt, dessen wichtigste Stadt Tegea ist.
Nachdem Ino den Hunger gestillt hat, will sie auch ihre Neugier stillen. Sie fragt Carmentis nach der Zukunft. Athamas’ Frau ist besonnen; sie weiß, dass es nicht gestattet ist, alles zu sagen, weil sie Herkules auch nicht alles erzählen konnte; deswegen bittet sie nur, dass es gesagt wird, qua licet (536). Wie Ino unverzüglich (498) gesprungen war, genauso schnell bemächtigte sich der Gott der Weissagerin68 und bringt sie zum Sprechen. Der ἐνθυσιασμός ändert, verunstaltet und entstellt die menschliche Figur69; er vergrößert ihre Statur, weil auch ihre Fähigkeit und ihre Macht gesteigert werden: „Begnadete Menschen sind maiores humano “70. Die Szene ist deutlich von Verg. Aen . VI 46–51VergilAen. VI 46–51 inspiriert.
Carmentis verkündet nur frohe Nachrichten: Ino wird dem römischen Volk helfen, in RomRom71 immer zugegen sein und eine Seegöttin werden, wie Melikertes ein Seegott. Carmentis selbst verleiht ihnen ihre neuen Namen: Leukothea-Mutter MatutaMatuta; PortunusPortunus (er kümmert sich um den Hafen)-Palaimon72. In Bezug auf die lateinische Bezeichnung des divinisierten Melikertes, behauptet Frazer, „Portunus was a genuine old Roman god“73; diese Gottheit erscheint auch in Aen VergilAen. V 240. V 240, wo er einem im Wettbewerb zu Ehren des verstorbenen Anchises kämpfenden Schiff hilft. Die Römer waren nicht sicher, ob Portunus’ Name aus portus oder aus porta abzuleiten war. Der schottische Gelehrte meint: „Portunus was primarily a god of gates ( portarum ) and only secondarily a god of harbours ( portuum )“74. Seine Festspiele fanden am 17. August statt.
Carmentis empfiehlt den neuen Göttern, RomRom gnädig zu sein. Wo sich Ovid an die guten Mütter in Vers 478 wendet und ihnen befiehlt, zu den Matralia zu gehen ( ite ), da weist Carmentis Mater Matuta und PortunusPortunus umgekehrt an, nach Rom zu gehen ( ite , Vers 548) und der Urbs gnädig zu sein; Mater Matuta verspricht es. Auffallend in diesem Verfahren ist, dass der Vermittler dieser Divinisierung nicht ein Gott ist, sondern eine menschliche Priesterin, der ApollonApollon die Worte eingibt; sie ist es auch, die den beiden ihre Namen verleiht. Im Gegensatz zu Met . IV 539–542OvidMet. IV 539–542 gibt es in den Fasten keinen Reinigungsprozess. Die erste Frage nach der Identität von Mater Matuta sollte hiermit beantwortet sein.
In den Fasten sterben Ino und Melikertes nie. Zunächst stürzen sie sich von einer Klippe ins Meer, aber Panope und ihre Schwestern retten sie, und sie überstehen den Sturz unbeschadet; daraufhin wollten die Mänaden das Kind den Armen der Mutter entreißen – eine Szene ähnlich wie in den Metamorphosen , in der Athamas Learchos aus Inos Armen reißt und tötet –, aber sie schaffen es dank der Hilfe von Herkules nicht; letztlich werden sie sofort gemäß der Vorhersage von Carmentis in Götter verwandelt.
3’) Der Grund für die Ablehnung der Sklavinnen
Ein bloßes Jawort – und Ovid bringt den Leser noch einmal in die Gegenwart. Der Dichter nimmt die Erzählung in die Hand und simuliert einen Dialog mit den vor dem Tempel der Göttin versammelten Gläubigen. Ovid will die dritte und letzte Frage beantworten, aber er ändert ganz und gar das ParadigmaParadigma, weswegen er zur Gegenwart zurückkehren muss: Er konnte nicht in der I-L-M-Version bleiben, wenn er diese Antwort mit der Hilfe der I-P-H-Version erklärt, obwohl weder Nephele noch ihre Kinder im Text erwähnt werden. Darüber hinaus ist die Erzählung sehr viel kürzer (nur zwölf Verse). Diese Antwort befriedigt überhaupt nicht. Frazer glaubt, „perhaps the prohibition was based on a general unwillingness, shared by Greeks as well as Romans, to allow slaves to participate in religious rites, which they were supposed to pollute by their presence“75. Dieser Forscher bietet auf derselben und der nachfolgenden Seite viele andere Beispiele von KultKulten, in denen die Anwesenheit von Sklaven verboten war.
Ovid zufolge hasst Ino-Leukothea- Mater Matuta die Dienerinnen, weil eine SklavinSklavin zu Athamas’ Nebenfrau wurde. Der Aiolide wird als böswillig ( improbus , Vers 555) beschrieben, wie es auch in den Gedichten der Anthologia Palatina 76Anthologia PalatinaAP. IX 253 geschieht. Seine Liebe zu diesem Sklavenmädchen ist furtim (555), wie Athamas auch in anderen Texten Ino heimlich liebte, hinter dem Rücken seiner Frau Nephele77. Man kann sich fragen, wer für diese Liebe verantwortlich war: Athamas oder die Dienerin? Wer verführte wen?
Die SklavinSklavin, deren Name nicht genannt wird78, ist diejenige, die Athamas Inos IntrigeIntrige enthüllt, mit anderen Worten, sie beschuldigt Athamas’ Frau des Komplotts mit dem gedörrten Samen. Aber es wird nicht gesagt, warum und gegen wen Ino intrigiert hat; dies muss allen bekannt gewesen sein. Dieser Bericht steht im Gegensatz zu den Erzählungen ( Fast. II 628OvidFast. II 628), in denen Ino selbst den Samen verbrennt, und ist denen ( Fast . III 853)OvidFast. III 853 ähnlicher, in denen die Samen durch den Betrug der Stiefmutter gedörrt werden. Ovid verwendet dieselbe Tradition von Theon, wie sie Stephanos von Byzanz überliefert hat79 .
Ino leugnet die Tat80, aber die fama , nämlich das Gerücht, das Inos Geschichte nach der I-L-M-Version vorher verkündet hat, macht nun die I-P-H-Version bekannt. Fontenrose meint, diese Episode, wie die von Theon, sei möglicherweise die ursprüngliche Legende eines Mannes mit zwei Frauen; diesem Forscher gemäβ, „[it] probably represents a feature of the original legend in which the maidservant tried to influence Athamas against Ino either by telling some damaging truth about her or by deliberately lying“81; das heißt, dass die Dienerin sich nur wünscht, dass ihr Liebhaber sich mit seiner Frau zerstreitet, damit sie ihn ganz für sich hat.
4’) Epilog: Das Gebet für die Nachkommenschaft der anderen
Ovid beendet diese Geschichte mit der Erklärung des Kultes der Matralia : Mutter MatutaMatuta wird seltsamerweise nicht als Mutter verehrt – sie sah ihren Sohn Learchos sterben und versuchte ihren Sohn Melikertes zu töten –, sondern als AmmeAmme, die sich um ihren Neffen Bacchus gekümmert hat. Die Mütter müssen deshalb für die Kinder anderer Person und nicht für ihre eigenen Kinder beten. Ovid sagt nicht, wie Plutarch82, dass sie für die Kinder ihrer Gewister beten müssen, sondern nur für alterius (561). Normalerweise wird es so verstanden, dass man für die Kinder der Schwester beten müsse, denn Ino war gut zu Bacchus, es wird aber gemeinhin vergessen, dass sie an der Jagd und dem Zerreißen ihres anderen Neffens Pentheus beteiligt war83. Das Wort felix (560) „a ici le sens actif (= propitia ) comme dans l’expression Venus Venus felix “84. Dass Ino nicht glücklich gewesen ist, wird auch von Porphirios erwähnt85.
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