Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast
Abwägen und Anwenden
Zum ‚guten‘ Umgang mit ethischen Normen und Werten
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ePub-ISBN 978-3-7720-0079-9
Uta Müller / Philipp Richter / Thomas Potthast
Seit den 1960er Jahren hat die sog. „Angewandte Ethik“ einen beachtlichen Aufschwung erfahren und sich in Form verschiedener Bereichsethiken wie Umwelt‑, Bio-, Medizin- und Wirtschaftsethik etc. institutionalisiert (Steigleder/Mieth 1991). Das Projekt einer „Angewandten Ethik“ oder „Ethik in den Wissenschaften“ ist dabei mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, dass sie bei konkreten und offenen Problemstellungen, z.B. bei Moralfragen in Wissenschaft und Technik, einen methodisch gesicherten Beitrag zur gesellschaftlichen Orientierung leisten kann (Düwell 2000). Dass diese methodische Basis allerdings keineswegs einfach ist und sich für die anwendungsbezogene Ethik insbesondere die Frage stellt, wie sich allgemeine Normen und Werte überhaupt auf konkrete Problemstellungen beziehen lassen, zeigt sich allein schon an der (unabgeschlossenen) Suche nach ihrer angemessenen Bezeichnung (Düwell 2011). Der auch durch Handbücher und Lexika-Einträge etablierte Begriff einer Angewandten Ethik (Nida-Rümelin 2005) scheint, so die Kritik, eine allzu einfache Konzeption von „Anwenden“ einer Theorie nahezulegen, bei der die Rationalität der Übergänge zwischen den Aussagen von verschiedenen Allgemeinheitsgraden letztlich unklar bleibt und zugleich das jeweils Besondere des konkreten Einzelfalls zu verschwinden droht. Eine zu einfache, subsumtive Konzeption von Anwendung verstellt jedoch nicht nur die konzeptionellen Probleme, mit denen das Projekt einer Konkretisierung philosophischer Ethik in spezifischen Fallfragen zu konfrontieren wäre. Vielmehr besteht auch die Gefahr, dass theoretische Überlegungen der Ethik sich „unter Anwendungsdruck“ an der sozialen Erwünschtheit ihrer Ergebnisse orientieren könnten, und so keine philosophisch-ethische Klärung leisten, sondern lediglich spezifische Vorstellungen der herrschenden Moral „rationalisieren“ und reproduzieren würden. Eine reflexive Klärung der methodischen Leistungen und Grenzen einer „Ethik in Anwendung“ scheint daher erforderlich, nicht zuletzt um auch die zweifellos sachlich ergiebigen Forschungsprojekte, die unter dem Titel „Angewandte Ethik“ durchgeführt werden und wurden, hinsichtlich ihrer methodischen Basis weiterzuentwickeln.
Dass nun die langjährigen Diskussionen um eine „Anwendung“ ethischer Theorie bislang noch nicht im Sinne einer konzeptionellen Klärung entscheidend vorangekommen sind, kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden: Erstens werden häufig ganz verschiedene Fragestellungen und interdisziplinäre Problemfelder unter dem Begriff der „Anwendung“ zusammengefasst. So kann zum Beispiel bereits die Frage „Wie kommt die Erkenntnis allgemeingültiger, theoretisch begründeter Normen im Einzelfall zur Anwendung?“ empirisch-psychologisch, pädagogisch-didaktisch, sozialwissenschaftlich oder normativ philosophisch, rechtswissenschaftlich oder theologisch untersucht und durch entsprechend disziplinäre Theoriebildung unterschiedlich beantwortet werden. Zweitens hat die starke Ausdifferenzierung der sog. Angewandten Ethik dazu geführt, dass in den verschiedenen Bereichsethiken eine Vielzahl von spezifischen Untersuchungsergebnissen und Urteilsbildungsmodellen entwickelt wurde, die den Anforderungen der jeweiligen Praxisfelder wohl genügt, aber nicht mehr übergreifend methodologisch diskutiert wird. Hier fehlt bislang eine Zusammenführung der einzelnen ethischen Diskurse unter eine gemeinsame, philosophisch reflexive Forschungsperspektive zur Klärung ihrer methodischen Leistungsfähigkeit im Allgemeinen. Drittens wird dem Anwendungsaspekt im Rahmen verschiedener ethischer Theorieansprüche eine unterschiedliche Relevanz und Verortung gegeben: Während zum Beispiel das Subsumtionsproblem hauptsächlich ein Problem für Ethiken des Kantischen Typs darstellt (vgl. Wieland 1989; Werner 2004: 81f.), tritt dieses in klugheitsethischen Konzeptionen nicht auf (vgl. Luckner 2005). Überlegungen im Modus einer Klugheitsethik sind dagegen mit dem Problem der Vagheit und Unsicherheit hinsichtlich ableitbarer Direktiven im Sinne konkreter Gebote bzw. Verbote belastet – Argumente gegen einen absoluten, epistemischen und normativen Relativismus sind daher dringend erforderlich. Bereits diese kurze Andeutung mag exemplarisch ersichtlich machen, dass das Erfordernis einer methodologischen Klärung von „Angewandter Ethik“ auch und gerade einen Rückgang zu den begrifflichen Grundlagen der philosophischen Ethik sowie deren vertiefte Reflexion erforderlich macht. Die Unterscheidung einer (nur) allgemeinen Ethik als reiner Theorielieferantin einerseits und einer problemorientierten Angewandten Ethik andererseits, wie sie von manchen Einführungswerken zum Thema nahegelegt wird (Fenner 2010; Vieth 2006), erscheint daher fraglich und wenig zielführend (vgl. auch Salloch 2016: 36f.).
In Bezug auf Anwendungsfragen allgemeiner Theorieansprüche und Normen auf das „wirkliche Leben“ stellt insbesondere auch die Kooperation der Philosophie mit anderen normativen und auch empirisch-erklärenden Disziplinen ein Desiderat dar. Beispielsweise steht die juristische Methodenlehre vor dem ähnlichen Problem einer Sicherung der „kleinteiligen“ Rationalität der Subsumtion von Einzelfällen unter allgemeine rechtliche Normen und Gesetze. Pädagogik und Psychologie arbeiten ähnlich wie die philosophische Ethik, freilich methodisch auf andere Weise, an Konzepten, wie allgemeine Erkenntnisse, Normen und Werthaltungen im Handeln (am besten) zur Geltung gebracht werden können. In diesem interdisziplinären Forschungsfeld ist jedoch klar zu unterscheiden, ob angesichts von „Anwendungsfragen“ der Fokus auf der begrifflichen Klärung von anerkannten und anerkennungswürdigen Regeln und auf den expliziten Begründungen liegt, die Überlegungen in bestimmten Praxisbereichen als gut bzw. angemessen erscheinen lassen – im Sinne eines Qualitätsurteils auf Grundlage einer rationalen Reflexion. Oder ob es in empirisch-erklärender Hinsicht darum geht, die gedanklichen Vorgänge des ethischen Überlegens empirisch-experimentell überprüfbar zu machen und das praktische Entscheidungsverhalten in seinen individual- oder sozialpsychologisch erklärbaren Aspekten weiter zu erforschen. Beide Forschungsperspektiven scheinen zur Klärung der Methode und Leistungsfähigkeit einer „Angewandten Ethik“ erforderlich, jedoch ist die begrifflich-reflexive Klärung primär und muss logisch vor einer empirischen Erforschung anwendungsbezogener Überlegungen und dem entsprechenden Entscheidungsverhalten durchgeführt werden. Die begriffliche Klärung und methodische Ausrichtung wird dabei freilich „unterwegs“ immer wieder produktiv durch empirische Erkenntnisse irritiert werden. Diese Irritationen sollte die philosophische Auseinandersetzung zulassen und konstruktiv aufnehmen.
In gewisser Hinsicht stellt dieser Sammelband neben der Darstellung neuer möglicher Forschungsperspektiven im „Anwendungsfeld der Ethik“ auch einen Zwischenbericht über die Diskussions- und Untersuchungsergebnisse eines Forschungsnetzwerkes dar, das am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (Universität Tübingen) von Julia Dietrich und Philipp Richter 2016 initiiert und von Uta Müller, Thomas Potthast und Philipp Richter über zwei Jahre hinweg organisiert und mit zahlreichen interdisziplinären Kooperationspartnerinnen und -partnern im gemeinsamen Austausch gepflegt wurde. An dieser Stelle möchten die Herausgebenden des Bandes für die rege Beteiligung durch Diskussion, Texte und Vorträge unseren Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen danken, die sich gerne bereit erklärt haben, an zwei größeren Workshops zur Sichtung und Klärung des interdisziplinären Forschungsfeldes einer „Anwendung von Ethik“ am Ethikzentrum der Universität Tübingen mitzuwirken.
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