Die Beiträge des Bandes führen die skizzierte Diskussion der Workshops fort und nehmen verschiedentlich das Problem einer Anwendung von Ethik bzw. allgemeiner Normen im Einzelnen als einen Prozess des gedanklichen Abwägens verschiedener Anforderungen in den Blick.
Der erste Themenblock widmet sich konzeptionellen und methodologischen Fragestellungen zur Rolle von Abwägung und Anwendung in der Ethik. Im ersten Beitrag untersucht Andreas Luckner die über eine bloße „Anwendung“ oder Mittelkalkulation hinausgehende Konkretisierung ethischen Überlegens. Dieses Abwägen ist, was Luckner im Ausgang von Aristoteles entwickelt, rational, obwohl nicht nur deduktive Logik oder der Umgang mit übersituativ gültigen Normen als Paradigma dienen. Philipp Richter diskutiert Konzepte von Angewandter Ethik und weist diesen immanente Widersprüche nach, die vor allem daher resultieren, dass die betreffenden Modelle statisch und isoliert gedacht werden – ohne dass ein Bezug zur Reflexivität einer philosophischen Auseinandersetzung und Begründung hergestellt wird. Zur Bewältigung dieser Problematik bietet Richter die Grundzüge einer Methodologie der Konkretisierung ethischen Überlegens an, die sich am Argumentationsmodus der Klugheitsethik und Topik orientiert. Eugen Pissarskoi untersucht die Problematik einer argumentativen Entscheidungsfindung in deontologischen und konsequentialistischen Ethikansätzen, auf die diese angesichts der Unsicherheit über die empirischen Konsequenzen der verfügbaren Handlungsoptionen notwendig stoßen. Diese Dimension des Umgangs ist besonders relevant für die rationale Klärung und Begründung des Vorsorgegedankens. Der Beitrag von Uta Müller und Lieske Voget-Kleschin versucht zu zeigen, dass sich die anwendungsbezogene Ethik in vielen umstrittenen Fällen zu sehr auf die Frage konzentriert, was Menschen tun dürfen , anstatt darüber zu reflektieren, was Menschen und die Gesellschaft, in der sie leben, eigentlich wollen . Diese Diskussion wird am Beispiel des aktuellen Diskurses über den Umgang mit der biologischen Altersforschung geführt.
Im zweiten Themenblock werden Fragen von Anwendung und Abwägung in den Praxisbereichen Ethik, Recht und Medizin behandelt. Jens Peter Brune und Micha Werner diskutieren in ihrem Beitrag einige Modelle ethischer Abwägung in politischen Gerechtigkeitsfragen mit Blick auf das Problem einer Konkretisierung von Ethik. Diese – aktuell viel diskutierten – Modelle postulieren nicht nur die Existenz von generalisierenden, auf Situationstypen oder typische Anspruchsqualitäten bezogenen Werte, Normen, Rechte oder Pflichten, sondern nehmen zusätzliche Kategorisierungen und Priorisierungen vor, um ethische Entscheidungen begründen zu können. Martin Gebauer und Felix Berner erörtern typische Abwägungskonstellationen im Kollisionsrecht. Nicht selten ergeben sich nämlich bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Prinzipienkonflikte, die nur durch die Methode der Abwägung zu lösen sind. Dabei sind auch kollisionsrechtliche Ausweichklauseln und Anpassungsfragen als Grundlage für Abwägungsentscheidungen zu bedenken. Im Bereich der Medizinethik stellen Michael von Grundherr und Orsolya Friedrich aktuelle psychologische Befunde vor, die nahelegen, dass in manchen konkreten Abwägungsfällen in der Medizin bewusstes verbales Überlegen und Argumentieren nicht immer dabei helfen, ein Ergebnis zu finden, das im Einklang mit gegebenen normativen Richtlinien steht – seien es die eigenen allgemeinen moralischen Überzeugungen der ethischen Entscheiderinnen und Entscheider, weithin akzeptierte berufsethische Prinzipien oder die Vorgaben einer ethischen Theorie. In vielen Fällen scheinen Forschungen zu belegen, dass intuitive Prozesse in dieser Hinsicht zu besseren Entscheidungen führen.
Der dritte Themenblock befasst sich mit Abwägungsfragen im Bildungsbereich. Bernhard Schmidt-Hertha widmet sich der Frage, welche Rolle in den Kompetenzdiskursen zur Erwachsenenbildung ethische Werte und Normen spielen. In seinem Beitrag werden – gestützt auf Konzepte zur Entwicklung ethischer Kompetenz im Schulunterricht und den Diskursen um Kompetenzorientierung in der Weiterbildung – grundlegende Überlegungen zur Vermittlung von ethischer Kompetenz in Weiterbildungskontexten angestoßen. Der Beitrag von Christiane Burmeister und Uta Müller konzentriert sich auf Berufstätige in der Sozialen Arbeit. Die Autorinnen diskutieren die Problematik, vor welche charakteristischen Herausforderungen sich die in der Sozialen Arbeit tätigen Personen gestellt sehen, wenn sie das „gute Abwägen“ in normativen Fragen des beruflichen Alltags praktizieren wollen. Der Blick richtet sich auf die professionseigenen Strukturbedingungen Sozialer Arbeit und erweitert dann die Fragestellung dahingehend, worauf Weiterbildungen in Sozialen Organisationen besonderen Wert legen sollten. Der Ausbildung von Medizinstudierenden widmet sich der Beitrag von Orsolya Friedrich und Michael von Grundherr. Dabei gehen die AutorInnen von Studien aus, die zeigen, dass die ethische Kompetenz von Studierenden der Medizin im Verlauf ihres Studiums deutlich abnimmt. Aus einer konzeptionellen Perspektive wird diskutiert, ob und warum unterschiedliche ethische Begründungsstrategien in der Medizinethikausbildung die angestrebte moralische Kompetenz in unterschiedlicher Weise fördern könnten.
Die HerausgeberInnen danken der Universität Tübingen, die das Forschungsprojekt „Ethische Abwägung in Recht, Medizinethik und normativen Fragen der Bildung – konzeptionelle und empirische Perspektiven“ im Rahmen ihres Zukunftskonzepts „Research – Relevance – Responsibility“ (Exzellenzinitiative) gefördert hat.
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