1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Durch die Einflechtung ästhetischen, mythisch-religiösen und philosophischen Materials in den Bezugsrahmen des Persönlichen arbeitete Schlingensief mit geradezu plakativer Deutlichkeit an einer „individuellen Mythologie“1. Der programmatische Begriff, mit dem Harald Szeemann im Zuge der 1972 unter dem Titel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ firmierenden documenta 5 eine im Dienste der Kreativität stehende Überhöhung des Egozentrismus und damit eine Abkehr von kollektiv verbindlichen Mythenkomplexen thematisierte, ist für Schlingensiefs künstlerische Thematisierung seines Ichs fruchtbar zu machen. Mit seinen dichten motivischen Formationen eigener und fremder Stoffe, dem ironisch gebrochenen Spiel mit religiösen Ritualen und Bildformeln, der Inszenierung symbolischer Transformationsvorgänge und nicht zuletzt seiner selbstreferentiellen Inkorporation traditionellen ästhetischen Inventars lässt sich der Regisseur in eine Reihe mit Künstlern von Paul Thek über die Wiener Aktionisten bis hin zu Joseph Beuys einordnen, die sich „mit ihren Bildwelten aus den Konventionen des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses ausklinken und Entwürfe eines Kosmos liefern, der nur den eigenen kontrollierten Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“2 Die Verquickung des traditionellen Begriffs von Mythos als einem überindividuellen, verbindlichen Symbolsystem mit der Erfahrungswelt des Einzelnen lebt sowohl bei den historischen Referenzfiguren als auch bei Schlingensief von der funktionalen Paradoxie, zwei kontradiktorische Erfahrungsebenen in eine widersprüchliche künstlerische Formel zusammenzuschließen. Mit dieser Formel erhebt „die Egozentrik den Anspruch […], eine allgemeingültige Sprache zu sprechen“3.
Von einem derartigen Standpunkt existentieller Selbsterfahrung, der sich nicht in privatistischer Autoreflexion erschöpft, sondern die eigenen enigmatischen Handlungsräume gegen die unhinterfragte Ordnung der Dinge in Anschlag bringen will, zeugt Schlingensiefs Schaffen selbstverständlich bereits vor dem Einbruch seiner Krankheit. Schon mit seinem ersten Langfilm Tunguska – Die Kisten sind da (1984) lanciert der Regisseur, den am Medium Film nach eigenen Aussagen vor allen Dingen seine materiale Zerstörbarkeit faszinierte,4 die autoreflexive Geste eines jungen Filmregisseurs, der gegen das Gebot des filmischen Realismus aufbegehrt und das Ende des Neuen Deutschen Films heraufbeschwört. Anhand hysterisch überspannter Familienkonstellationen wiederum zeigt die „Deutschland-Trilogie“, bestehend aus 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) und Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1991/1992), ernüchternde Gegenwartsdiagnosen und die Erforschung deutscher Geschichte. Seine Theaterarbeiten führen die Impulse aktueller politischer und gesellschaftlicher Diskurse im intermedialen Assoziationsfeld weiter und zeichnen sich durch die Dichte an Bezügen zu vorangegangenen Arbeiten aus. So widmen sich etwa die sowohl im thematischen Umfeld der Church of Fear als auch Schlingensiefs Bayreuther Parsifal (2004–2007) entstandenen Inszenierungen Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen (Volksbühne Berlin, 2003), Bambiland (Burgtheater Wien, 2003) und Attabambi Pornoland (Schauspielhaus Zürich, 2004) ebenso den Anschlägen des 11. Septembers wie der medialen Inszenierung des Irakkriegs und zeigen motivische wie inszenatorische Versatzstücke der Parsifal -Inszenierung. Inmitten dieser apokalyptischen Settings stellt Schlingensief wahlweise Beuys’ Aktion Coyote nach, versucht sich als Aktionskünstler im Geiste Hermann Nitschs, dirigiert von einem Turm aus Wagners Tannhäuser -Ouvertüre und spielt nebenbei ein Kind, das gegen die Eltern rebelliert. In den letzten Inszenierungen Schlingensiefs führt eine solche Fundierung des ästhetischen Schaffensaktes im persönlichen Erfahrungshorizont des Künstlers allerdings zu einem ernsten, existentiellen Spiel um die Offenbarung und Chiffrierung des autobiotheatralen Ichs. Die augenscheinliche Mythologisierung des Ichs, die als implizites Leitmotiv zahlreicher Rezensionen fungiert, zeigt überdies den Versuch einer Aktualisierung kunstphilosophischer Konzepte der Frühromantik an.
Dies wird offensichtlich mit Blick auf Friedrich Schlegels Konzept der Universalpoesie. In seinem fiktiven Gespräch über die Poesie weist der Philosoph die Poesie als schöpferischen Urquell aus, der zwischen dem Einzelnen und der allumfassenden Idee des Kosmos vermittelt. In einem für das romantische Denken konstitutiven Modus „kosmischer Projektion“ bindet Schlegel seine Überzeugung, wonach „jeder [Mensch] seine eigne Poesie in sich“5 trage, an ein übergeordnetes, unbestimmbares Prinzip schöpferischer Kraft zurück. Diese höhere Poesie, die „von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit“6 hervorgeht, fungiert ihrerseits als Statthalterin des Numinosen. Aus dem alles einschließenden, selbstschöpfenden Vorstellungskomplex der Poesie erwächst letztlich Schlegels Forderung nach einer Neuen Mythologie . An sein poetisches Konzept knüpft er nichts weniger als die Hoffnung auf eine verbindliche, gemeinschaftliche Weltanschauung, die zwischen den Dualismen einer zerrissenen modernen Welt vermittelt. Die Neue Mythologie ist mithin dazu angetan, die religiöse Lücke einer entgötterten Welt in der Romantik zu schließen. Die Voraussetzungen für einen derartigen wirkungsästhetischen Zusammenschluss von Kunst und Religion liegen dabei freilich in deren vorangegangener Trennung im Zuge der Aufklärung und im nunmehrigen Fehlen eines verbindlichen religiösen Sinngebungssystems.
Hinter Schlegels Entwurf einer alles verbindenden poetischen Kreativität kommt der Begriff der Kunstreligion zum Vorschein. Friedrich Schleiermacher bringt ihn im Jahr 1799 in seinen Reden Über die Religion erstmals ins Spiel. Der Begriff drückt die Sehnsucht nach Ganzheitserfahrungen – bei Schleiermacher die Suche nach der „Harmonie des Universums“7 – aus. Obwohl Schleiermacher zunächst keinen Zweifel daran lässt, dass die Kunst der Religion gegenüber eine dienende Funktion übernimmt, so gesteht er ihr im Laufe seiner Argumentation doch die Möglichkeit zu, aus eigener Kraft das Unendliche erfahrbar zu machen. Mit der Beobachtung, dass „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“8, weist er ebenso entschieden über Goethes verhaltene Bemerkung hinaus, wonach die Kunst „auf einer Art religiösem Sinn, auf einem tiefen unerschütterlichen Ernst“9 beruhe, wie über Klopstocks Ansicht, dass die „heilige Poesie“ sich nachahmend die Wirkungsmechanismen des Religiösen zu eigen mache.10 Die Wirkungsqualität erhabener Kunstwerke ermöglicht für Schleiermacher eine gleichsam religiöse Erfahrung des Absoluten.11 An seiner begrifflichen Verbindung der Sphären von Kunst und Religion äußert sich seine Hoffnung auf eine neue Art der religiösen Erfahrung, die das Endliche transzendiert und einen Zugang zum Universum ermöglicht.12
Der Versuch, eine mythische Welt zu restituieren, in der die Oppositionen von Endlichem und Unendlichem, Einheit und Vielfalt, Individuum und Gemeinschaft, Absolutem und Relativem, Subjekt und Objekt aufgehoben sind, führt bei Schlegel über die ästhetisch liminale Sphäre einer anderen Realität, eines „verdoppelte[n] Leben[s]“13, in dem Einbildungskraft und Denken verschränkt sind. Dieses Leben muss, wie der Philosoph in seiner dem Gespräch über die Poesie eingelagerten „Rede über die Mythologie“ betont, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen“14. Mit seinem Entwurf der „progressiven Universalpoesie“15 löst Schlegel das ästhetische Desiderat einer Kunst als Gefäß des Absoluten schließlich ein. Die programmatische Forderung nach einer Poesie, deren metaphysisches Einheitsstreben gerade auf der Sprengkraft von unterschiedlichen Sphären der Erkenntnis und Wahrnehmung beruht, wie es Schlegels Chiffren der „Symphilosophie und Sympoesie“16 nahelegen, zielt nicht lediglich auf ein inklusives, zwischen den verschiedenen Gattungen und Erkenntnisebenen vermittelndes Konzept. Vor allen Dingen ist damit die dynamische Komponente einer Kunst angesprochen, in der Sein als beständiges Werden erscheint, das im Prozess fortwährender Umcodierung von Sinn niemals an sein Ende gelangen kann.
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