Menschsein entstehe aus Krisenerfahrungen, nämlich in der individuellen Fähigkeit zu freier Selbstschöpfung.6 Eine analoge Weltdeutung findet sich in Virginia Woolfs Werk, in Varianten aber auch in den anderen hier vorgestellten Romanen. Die jeweilige Form der Romane nimmt Grenzerfahrungen menschlicher Existenz und ihre narrativen Aufschwungs- und Lösungsmöglichkeiten in ihre kontingenzästhetische und multiperspektivische Struktur als fiktionale Existenzerhellung auf. Die jeweilige erzählerische Form wird zum fiktionalen „Wagnis des Lebens“7 und damit zum interessanten, spannenden, unterhaltsamen, die Gefühle und kognitiven Fähigkeiten der Rezipient/innen des dritten Lebensalters anregenden Lektüre- und Diskursangebot. Sie können ein großes Spektrum menschlicher Grenzsituationen, in denen sich die Protagonisten der Romane befinden und ihre Bewältigungsmöglichkeiten, erschließen: Im Oliver Twistals Todeserfahrungen im Leben, in Jane Eyreals drohende Existenzvernichtung, in Wuthering Heightsals archaische Gegenperspektive gegen viktorianische bzw. bürgerliche Ordnungsvorstellungen, bei Virginia Woolf als „Zeitlichkeit und Veränderlichkeit“8 des individuellen Lebens, in seiner Ambivalenz von Leben und Tod. Ins Spiel kommen dabei Fragen der Alternsidentität, die, nach Erikson, an die Aufgabe gebunden sind, das eigene Leben in seiner Gesamtheit als stimmig zu erfahren und in seinen positiven wie negativen Aspekten als einmalig, unumkehrbar und endlich zu bejahen.9 In der Weiterführung der Entwicklungstheorie Eriksons hebt Andreas Kruse mit Günter Anders und Hans Thomae hervor, dass Identitätserfahrungen im Alter durch Offenheit, als „Fähigkeit und Bereitschaft (…), sich von der Welt berühren, beeindrucken, ergreifen zu lassen“, entstehen. Daraus folgen „Mitverantwortung“ für die Welt und ihre Veränderungsmöglichkeiten und Dispositionen für „im Lebenslauf entwickelte (…) neue Möglichkeiten und Anforderungen“.10 Entscheidend ist hierbei, dass im Alternsprozess eine „tragfähige Lebensperspektive“ entwickelt werden kann, die sich in Bezug auf die verbleibenden Jahre des Lebens als positive Lebensbewertung und als Wunsch nach sozialer Teilhabe äußert.11 Dieses Konzept der Generativität im Alter, das sich familiär und gesellschaftlich verwirklichen kann, ist in engem Zusammenhang mit Identitätstheorien zu sehen, in deren Zentrum Erfahrungen der transitorischen Identität und ihre Möglichkeiten der Selbstorganisation subjektiven Lebens in der Moderne stehen. Die mit Industrialisierung, Kapitalisierung und unterschiedlichen Strömungen von Individualisierung entstandene Moderne, die sich durch das lange 19. Jahrhundert erstreckte, wird von Soziologen und Kulturkritikern, wie Charles Taylor, Peter Gay, Ulrich Beck, Anthony Giddens, Axel Honneth, mit einer reflexiven, sich ständig revidierenden Moderne, dem Verlust stabiler Wertorientierungen, extrem gesteigerter Auswahlmöglichkeiten, mit Reflexionen auf transitorische Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten und transformatorischen Bildungschancen in Verbindung gebracht. Romane des Viktorianischen Zeitalters und des frühen 20. Jahrhunderts generieren das Paradigma moderner, transitorischer Identität: „The fact that so many novels centre on a search, quest or voyage suggests that meaning is no longer given in advance.”12 In Bezug auf Identitäts- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten in der Moderne spricht Jürgen Straub, wie oben erläutert, von unabschließbaren Ambitionen, die aktiv keine Kohärenz des Selbst herbeiführen. In der Auseinandersetzung mit den Romanen wird das Selbst als Fremdes, als Anderes, als nicht einholbarer, konstitutiver Selbstentzug, der kreative Potenziale und Möglichkeiten der Selbsttranszendierung freisetzen kann, thematisch.13 Der Individualismus hatte sich in England bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Blüte entwickelt und war hauptsächlich männlich konnotiert.14 Fragen nach „moralischen Grundlagen der Marktwirtschaft“15 wurden nicht systematisch gestellt. Sie wurden von Intellektuellen in Bezug auf den Homo oeconomicusals Persönlichkeitstypus, nicht aber in Bezug auf soziale Verelendung und Ausbeutung durch Freisetzung privater Profitinteressen diskutiert.16 Sie tauchten als Skizzen eines moralischen Ökonomismus bei Adam Smith, Hegel, Durkheim und Marx auf.17 Die seit dem 18. Jahrhundert publizierten englischen Romane jedoch gingen in Varianten der Frage nach, ob ökonomisch, d.h. in der Sprache der Romane, malevolent strukturierte Machtasymmetrien moralisch legitimiert seien und ob der Typus des Homo oeconomicusnicht mit der „Gefahr einer allmählichen Aushöhlung sozialer Bindungen verknüpft sei“.18 Im Möglichkeitsraum der Fiktion entwarfen Romane Vorstellungen individueller Autonomiebildungsmöglichkeiten und brachten diese Fragen, im 19. Jahrhundert über die Paradoxie des poetischen Realismus, wie zu zeigen sein wird, als Herausforderungen in den öffentlichen Diskurs ein.19 Im 19. Jahrhundert verdichteten Romane die unauflösbare Diskrepanz des modernen Kapitalismus, die sich „(…) zwischen dem an universalisierbaren Werten orientierenden Verständigungs- und Geltungsanspruch demokratischer Politik einerseits und der sich demokratischer Politik und moralischer Gestaltung entziehenden Dynamik des Kapitalismus andererseits (…)“ als „Dauerproblem“ aufspannte20 und, wie Peter Gay dies nennt, ein normatives Vakuum erzeugte.21 In ihrer narrativ subjektiven Perspektivierung der Kulturkrise, die sie 40–50 Jahre vor ihren Publikationsdaten, meist in der Mitte des 18. Jahrhunderts, ansetzen, sind Romane des Viktorianischen Zeitalters Teil des modernen Literatursystems.22 Sie konfrontieren – wie auch die Romane, die der klassischen Moderne zugerechnet werden – die Diskrepanz des modernen Kapitalismus und die mit ihr einhergehenden Problematik des normativen Vakuums kontingentästhetisch und multiperspektivisch. Rezipient/innen des dritten Lebensalters können diese Romane als kulturelle Gedächtnismedien über die Fähigkeit zur Aktiven Imaginationrefigurieren, wenn sie deren paradoxe bzw. multipersektivische narrativen Strategien erschließen und auf die epochale und ästhetische Differenz dieser fiktionalen Möglichkeitsräume zu heutigen individuellen Akten kulturellen Erinnerns reflektieren. Bei der Erschließung dieser Romanwelten kommen komplexe moderne Entfremdungserfahrungen, die „wirklichkeitsgeneriernd“23 das Erzählen des Erzählens hervorheben, ins Spiel. In narrativen Konstruktionen, die das Geschehen allererst erzeugen, erkunden Romane das moderne Selbst, loten Möglichkeiten seiner Handlungsspielräume und persönlicher Autonomie aus und dringen zu „Zonen des Vor- und Unbewussten (…) vielfach im Modus der Angst“24 vor. Da jeder dieser Romane Wahrnehmungsformen moderner Subjektivität anders perspektiviert, entsteht eine enorme Vielfalt unterschiedlicher narrativer Ausdruckswelten – auch bei Autoren, wie beispielsweise Charles Dickens, in dessen Werk kein Roman dem anderen gleicht –, so dass man von einer einheitlichen Gattung Roman nicht sprechen kann.25 In der Refiguration moderner Romane als kulturelle Gedächtnismedien durch Rezipient/innen des dritten Lebensalters, wird die Komplexität des modernen Ich, werden Gattungsmuster erschließbar, die Entwicklungsverläufe unterschiedlichster Art, bzw. archetypische Formen wie Komödie, Tragödie, Satire, Melodrama26 und ihre – besonders bei Charles Dickens ausgeformten – Mischformen zum Ausdruck bringen. Die kontingenzästhetische Multiperspektivität der Romanwelten bringt moderne Erfahrungen der transzendentalen Obdachlosigkeit (Georg Lukács) und die daraus folgenden Pathologien der Angst, der Verlusterfahrungen und Bedrohung zum Ausdruck; in Romanen des Viktorianischen Zeitalters in den Modi des Unheimlichen, der Groteske, des Erhabenen, des Grotesk-Erhabenen mit kathartische Lösungsmöglichkeiten im Modus des Märchenhaften oder der Märchen-Groteske, in Romanen der klassischen Moderne in den Modi des Selbstverlustes und der Selbsttranszendenz.
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