Die Absetzung Ahmeds III. markiert das Ende sowohl der nach außen scheinbar so idyllischen Atmosphäre im Reich als auch der entspannten wechselseitigen Begegnung mit den europäischen Mächten. In den von zahlreichen Kriegen – vor allem gegen Russland und Österreich – gekennzeichneten Jahrzehnten danach hatte das Osmanische Reich trotz einiger Verluste seinen Bestand im Großen und Ganzen noch halten können. Erst mit dem Frieden von Küςük Kaynarca, der einen 1768 mit Russland ausgebrochenen Krieg beendete, musste es territoriale Einbußen und Demütigungen hinnehmen, die seinem Status als eine den europäischen Mächten ebenbürtige Großmacht ein unwiderrufliches Ende bereiteten. Die Hohe Pforte – so benannt nach dem Tor zum Sitz des Großwesirs in Konstantinopel – musste sich bereit erklären, das Khanat der islamischen Krimtataren in die »Unabhängigkeit« zu entlassen (womit es unter den Einfluss des Zarenreichs geriet). Unmittelbar nach diesem Ereignis fielen der Landstrich zwischen Bug und Dnjepr sowie mehrere Festungen (unter ihnen Asow) und ein großes Gebiet im nördlichen Kaukasus (die sog. Kabardei) unter russische Kontrolle. Dem Gesandten des Zaren in Konstantinopel wurde das Recht zugesprochen, bei der Pforte die Belange der Donaufürstentümer Moldau und Walachei zu vertreten. Ferner musste die osmanische Staatsführung Russland ein Schutzrecht für die orthodoxen Christen auf osmanischem Territorium einräumen. Ähnlich war bereits früher – in der »Kapitulation« 4von 1740 – Frankreich die Schutzherrschaft über die Katholiken und die mit Rom unierten lokalen christlichen Religionen des Reichs zugestanden worden. Zu diesem Zweck erhielt Russland das Recht, überall im Osmanischen Reich Konsulate einzurichten. Russland durfte auf dem Schwarzen Meer eine Handelsflotte unterhalten, die die Meerengen Bosporus und Dardanellen ungehindert passieren konnte.
Angesichts der mit dem Friedenvertrag sichtbar werdenden Schwäche des Reichs schien dessen anhaltender Zerfall programmiert. Wenn sich dieser noch fast anderthalb Jahrhunderte hinzog, war das nicht zuletzt den Rivalitäten geschuldet, die zwischen den vier europäischen Großmächten: England, Frankreich, Österreich-Habsburg und Russland hinsichtlich der Verteilung des Fells des Bären bestanden. Die »orientalische Frage« war gestellt; um ihre Antwort sollte bis zum Ende des Reichs gerungen werden. Auf der anderen Seite aber hat die osmanische Staatsführung immer neue Anläufe unternommen, das Reich auf allen Gebieten zu modernisieren, die ihr mit Blick auf dessen Überleben gegenüber dem Andringen der
Abb. 1: Die »Hohe Pforte« (Bab-ı ali), der Eingang zum Amtssitz des Großwesirs in Konstantinopel, zur Zeit Mahmuds II.
europäischen Mächte geboten erschienen. Insofern ist die Geschichte des Osmanischen Reichs zwischen 1774 und 1918 mehr als nur ein Abgesang. Sie lässt vielmehr erkennen, ein wie hohes Maß an Selbstbehauptungswillen sowie an Kraft zu Erneuerung und Veränderung in Staat und Gesellschaft noch steckten.
Mit dem Verlust der Herrschaft über die muslimischen Krimtataren begann die Staatsführung, die islamische Dimension in der Stellung des Großherrn aus der Familie Osman zu entdecken. Sie besann sich auf den Tatbestand, dass Selim I. (1512–1520) bei seiner Eroberung von Kairo (1517) die Würde des Kalifen, d. h. des geistig-religiösen Oberhaupts der Muslime, angenommen hatte. Nach der Eroberung Bagdads, der Hauptstadt des abbasidischen Kalifats, durch die Mongolen (1258) hatte ein Schattenkalifat in Kairo überlebt, das nun auf den neuen Herrscher überging. Zunächst sollte der Kalifenwürde in der Politik der Osmanen keine signifikante Bedeutung beigemessen werden. Mit dem Verlust immer weiterer muslimischer Teile des Reichs konnte über diese jedoch immerhin eine spirituelle Verbindung zu den ehemaligen Untertanen des Sultans aufrechterhalten werden. Wie noch darzustellen sein wird, ließ sich die Beschwörung des Kalifats instrumentalisieren, um politische Machtansprüche zu legitimieren. Die Entscheidung des Parlaments der Türkischen Republik im März 1924, das Kalifat abzuschaffen, unterstrich schließlich noch einmal den besonderen Stellenwert dieser Institution – auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt kaum mehr war als eine leere Hülle in Gestalt einer historischen Reminiszenz – in der Geschichte des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert. Damit war definitiv die islamische Staatsidee durch europäisch-nationalstaatliche politische Ordnungsvorstellungen abgelöst.
Auch für Iran 5ist das 18. Jahrhundert eine Epoche des Übergangs. »Persien auf dem Weg in die Neuzeit« hat Hans Robert Roemer seine »Iranische Geschichte von 1350–1750« überschrieben. 1501 hatte sich Isma’il (1487–1524) zum Schah über das Land – mit der Hauptstadt Täbris – erklärt. Er entstammte dem turksprachigen sufischen (d. h. islamisch-mystischen) Orden der Safawiyya 6im aserbaidschanischen Ardabil, der sich im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmend der schiitischen Glaubensrichtung zugewandt hatte. Mit seiner Machtübernahme setzte Isma’il eine umfassende Schiitisierung des Landes ins Werk: Das Bekenntnis zur Zwölfer-Schi’a, dem Hauptstrom unter den Varianten des schiitischen Islams, sollte das bestimmende Merkmal der Identität der Untertanen des safawidischen Reichs werden. (Unterschiedliche Ausprägungen der türkischen Sprachfamilie blieben – von kurzen Perioden abgesehen – bis 1925, dem Ende der Qadscharen-Dynastie, die Sprache der herrschenden Dynastien.)
Mit der Dynastie der schiitischen Safawiden war den Osmanen nicht nur ein politischer Gegner, sondern auch ein religiöses und kulturelles Widerlager erwachsen. Namentlich unter den turkmenischen Nomaden in Ostanatolien hatte die junge Dynastie eine beträchtliche Anhängerschaft. Als die Aufstände und Unruhen dort für die osmanische Herrschaft bedrohlich zu werden begannen, holte Sultan Selim (1512–1520) zum Schlag gegen sie aus. Schah Isma’il eilte der bedrohten Anhängerschaft zu Hilfe. Am 23. August 1514 kam es bei der ostanatolischen Ortschaft Çaldıran zur Schlacht: Sie endete mit einer vernichtenden Niederlage für den iranischen Herrscher. Isma’il überlebte das Desaster und konnte bis zu seinem Tode seine Herrschaft konsolidieren. Als er starb, war Iran in etwa (von Teilen Aserbaidschans und Khorasans abgesehen) in der bis heute gegebenen territorialen Gestalt entstanden. Anders als die neue Staatenwelt des Nahen Ostens, die nach dem Ende des Osmanischen Reichs (1918) wesentlich von den europäischen Mächten vorgezeichnet worden ist, hat Iran eine jahrhundertelange Tradition der Staatlichkeit in den bestehenden Grenzen.
Als Ergebnis der Schlacht von Çaldıran waren die Grenzen auf dem anatolischen Hochland weitgehend abgesteckt. Zugleich aber war damit die Grundlage für eine religiös-»systemische« Rivalität gelegt: Das vom Sultan (Kalifen) regierte Osmanische Reich stand für die sunnitische »Katholizität«, die Herrscher Irans für den schiitischen Legitimitätsanspruch (welcher freilich seit seinen Anfängen im 7. Jahrhundert durch die Geschichte hindurch eher die Rolle des Herausforderers gespielt hatte). In der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hat das kaum eine Rolle gespielt. Erst mit der Gründung der Islamischen Republik Iran (1979) sollte diese religiöse Dichotomie die Politik im Nahen Osten gelegentlich wieder konfessionalistisch einfärben.
Nur einmal kam es in späteren Kriegen zu einer wesentlichen territorialen Verschiebung zwischen den beiden Staaten: 1534 eroberten die Osmanen Bagdad und das Zweistromland bis Basra. Zwar war es den Schiiten Irans gestattet, die Heiligtümer in Kerbela und Nadschaf, den nach Mekka und Medina heiligsten Plätzen ihres Glaubens, zu besuchen. Mit der osmanischen Herrschaft aber begann eine jahrhundertelange Ära der Marginalisierung der Schiiten im Zweistromland. Und auch noch die Briten setzten nach dem Ersten Weltkrieg auf die arabischen Sunniten als staatstragende politische und gesellschaftliche Schicht, obwohl sie im 19. Jahrhundert zu einer religiösen Minderheit geworden waren. Erst nach dem Sturz des Diktators Saddam Husain durch die amerikanische Intervention 2003 sollten die arabischen Schiiten die Macht in Bagdad übernehmen. (Damit wuchs auch wieder der Einfluss des schiitischen Iran im Zweistromland.)
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