Nach erfolgter Einverleibung der drei südkaukasischen Republiken im Jahr 1921 fixierte Russland zugleich seine Grenze zu seinen drei vorderorientalischen Nachbarn. Am 16. März 1921 wurde in Moskau ein Freundschaftsvertrag mit der kemalistischen Bewegung geschlossen, der im Vertrag von Kars im Oktober bestätigt werden sollte (
S. 218). Bereits am 26. Februar war ein Freundschaftsvertrag mit Persien zustande gekommen (
S. 221). Ihm folgte zwei Tage später ein ähnliches Abkommen mit Afghanistan. Es war der erste völkerrechtliche Schritt dieser Art seit seiner Unabhängigkeit von England. Dass damit der Dynamik der Südexpansion Russlands kein definitives Ende gesetzt war, sollten die Türkei 1945, Iran 1945/6 und Afghanistan im Jahrzehnt nach 1979 erfahren.
Nahe der afghanischen Grenze entschied sich auch das persönliche Schicksal Enver Paschas, der als Kriegsminister der osmanischen Kriegführung einen Hauch von Panturkismus verliehen hatte. An seinen irrlichternden Aktivitäten nach seiner Flucht von Konstantinopel nach Berlin können die Verwicklungen und Triebkräfte im Kaukasus und Zentralasien – nicht zuletzt unter dem Aspekt panturkischer Ideen wie in einem Brennglas nachvollzogen werden. Nach dem Waffenstillstand von Mudros musste sich die von Enver befehligte »Islamische Armee« aus dem Kaukasus zurückziehen; eine britische Truppe sollte bis auf Weiteres das Vakuum füllen und für Stabilität sorgen. In Berlin hatte das gestürzte Triumvirat alte deutsche Freunde getroffen. Unter den Netzwerken sollten die Beziehungen zwischen Enver Pascha, Ex-Kriegsminister des Osmanischen Reichs, und Hans von Seeckt, seit Dezember 1917 dessen Generalstabschef, in besonderer Weise aktiv werden. Im Zusammenspiel mit deutschen Kommunisten reiste Enver 1919 im Auftrag von Seeckts nach Moskau, um die Möglichkeiten einer deutsch-sowjetrussischen Militärkooperation zu sondieren. Zugleich suchte er die Bolschewiken von einem antiimperialistischen Bündnis mit den türkischen Nationalisten gegen Großbritannien zu überzeugen. Diese Pläne mündeten schließlich in der Idee einer »grünen bolschewistischen Armee«, einer islamischen Streitmacht, die sich mit Einheiten der Roten Armee vereinen sollte, um die Türkei von der alliierten Fremdherrschaft zu befreien. Dabei propagierte Enver im russischen Exil einen panturkischen Staat, der vom Balkan bis nach Ostasien reichen und islamische und sozialistische Elemente vereinen sollte.
Während derartige Pläne noch auf dem Kongress der Völker des Ostens, der im September 1920 in Baku stattfand und auf dem auch die Muslime Russlands noch um einen Weg der Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Sozialismus und eigenständiger kultureller Identität rangen (Enver hatte an der Veranstaltung teilgenommen), einen Hauch von Machbarkeit gehabt haben mögen, mussten sie ein Jahr später als Utopie erscheinen: Mustafa Kemal hatte die Pläne Envers kategorisch zurückgewiesen (das Verhältnis der beiden war ohnehin stets von Abneigung und Widerspruch gekennzeichnet gewesen) und in der bolschewistischen Führung hatten sich diejenigen durchgesetzt, die entschlossen waren, bei der Wiedererrichtung des Imperiums auf Gewalt zu setzen. Dagegen hatte sich in Turkestan ein Widerstand erhoben, der sich aus sehr unterschiedlichen Verlierern der Revolution zusammensetzte. Er war nicht übergreifend organisiert, sondern einzelne Gruppen kämpften verstreut in Turkestan, in Buchara und im Fergana Tal. Mangels eines konsistenten Programms waren sie als basmači (»Räuber«) gebrandmarkt. Im November 1921 tauchte Enver in Turkestan auf. In Moskau erwartete man von ihm, er werde die versprengten Gruppen der islamischen Nationalisten sammeln und in einer in Moskau gegründete Liga der islamischen revolutionären Gesellschaften (Islam ihtilal cemiyetleri ittihadı) zusammenschließen können. Es war für Enver unschwer zu erkennen, dass man sich in Moskau seiner zu entledigen bzw. ihn zu instrumentalisieren suchte. Er wechselte die Fronten: Im Mai 1922 wurde er von den basmači als »Oberster Führer der Armeen von Buchara, Chiwa und Turkestan« anerkannt und soll sich nun selbst zum Emir von Turkestan, ja sogar zum Vertreter des Propheten Muhammad ausgerufen haben. 28Am 4. August 1922 wurde Enver während eines Feuergefechts mit sowjetischen Soldaten zwischen Buchara und Duschanbe getötet.
Damit war der panturkische Traum nicht endgültig ausgeträumt. Nach dem Ende der Sowjetunion (1991) sollte er – unter türkischen Politikern – wieder geträumt werden. Substantielle politische Ergebnisse waren freilich nicht zu verzeichnen. Er blieb ein in kleinen Netzwerken umgehendes Gespinst; aber selbst in Zeiten von Staats- und Regierungschef Erdoğan ist er nicht ausgeträumt.
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