Ob es sich bei der politischen Gruppierung, die sich 1904 unter dem Namen Hümmät (»Energie«/»Anstrengung«) konstituierte, um eine eigenständige politische Partei oder einen Ableger der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei handelte, die 1900/01 aus 15 illegalen marxistischen Zirkeln in Baku gegründet worden war, ist zwar umstritten, suchte sie doch in ihren ersten politischen und publizistischen Aktivitäten, in denen sie zum Einsatz für politische und soziale Grundrechte aufrief, den Schulterschluss mit russischen und armenischen Organisationen. Zugleich aber waren spezifisch türkisch-islamische Töne unüberhörbar. 26Nach den armenisch-aserbaidschanischen Massakern von 1905/06 verstärkte sich die nationalistische Grundstimmung. Die neugegründete Gruppe mit der Bezeichnung Difa’i hatte die »Verteidigung« (der Aserbaidschaner gegen die armenischen Daschnakzutyun) bereits im Namen. Neben dem militärischen Schutz propagierte sie die Organisation von Bildung und Aufklärung und forderte, eine faktische Selbstverwaltung durch die Übernahme kommunaler und juristischer Belange in städtischen und ländlichen Kommunen einzurichten. 1911 wurde die Müsavat-Partei (»Gleichheitspartei«) gegründet. Sie war die erste im umfänglichen Sinn politische Partei unter den muslimisch-türkischen Aserbaidschanern im russisch beherrschten Südkaukasus. Auch wenn ihre Gründer weit davon entfernt waren, separatistische Forderungen zu stellen, nahmen Einheit und Wiederherstellung der Unabhängigkeit aller muslimischen Völker doch einen sichtbaren Platz in ihrem Programm ein.
Unter den Initiatoren der Parteigründung befand sich eine Persönlichkeit, die sich zum Zeitpunkt des Geschehens gar nicht im Lande, sondern in Konstantinopel aufhielt. Wie die erwähnten Lebensläufe Zärdabis und Akhundovs weist auch die Biographie Mähämmäd Ämin Räsulzadäs (1884–1955) für die aserbaidschanische kulturelle Elite der Zeit bezeichnende Züge auf. Auch er kam aus einer religiös konservativen Familie, hatte russische Schulen besucht, war aufklärerisch und journalistisch aktiv sowie sozialpolitisch – zeitweise in der Nähe der Bolschewiki – engagiert. Besonders bemerkenswert ist seine Teilnahme an der Verfassungsrevolution in Iran, wo er in Täbris, der Hauptstadt Iranisch-Aserbaidschans, an der Gründung der Demokratischen Partei (
S. 221) Anteil hatte und als Chefredakteur der Zeitschrift Iran-e nou (»Der neue Iran«) tätig war. Nach der Niederschlagung der Revolution durch russische Truppen wich er 1911 nach Konstantinopel aus; dort trat er in engen Kontakt mit panturkischen Kreisen des jungtürkischen Regimes und schrieb für die Zeitschrift Türk yurdu (»Die türkische Heimat«). Erst 1913 kehrte er im Zusammenhang mit einer Amnestie anlässlich des dreihundertsten Jubiläums des Herrschaftsantritts der Romanow-Dynastie nach Baku zurück.
Die muslimische Intelligenzija Südkaukasiens hatte sich zu einer kosmopolitischen Gemeinschaft entwickelt, die mit Tiflis, Baku und Täbris ebenso verbunden war wie mit St. Petersburg und Konstantinopel. Über ihre engere Heimat hinaus suchte sie eine Brücke zu schlagen zwischen den reformerischen Ideen im Zarenreich und der islamischen, namentlich der turksprachigen Welt. Das bedeutete zugleich die Suche nach einer Synthese zwischen der Moderne und der türkisch-islamischen Tradition. Die revolutionären Entwicklungen in Russland 1905 und die zeitgleich ausgetragenen Massaker zwischen Armeniern und Aserbaidschanern waren der Weckruf, den Kampf für die Gleichstellung von Muslimen im Zarenreich zu intensivieren. Einer vierten Persönlichkeit muss in diesem Zusammenhang gedacht werden, die zu einem Vorkämpfer in dieser Sache wurde: Älimärdan bäy Topςubaşov (1863–1934). Am 15. März 1905 trafen sich in seinem Haus Vertreter der aserbaidschanischen Intelligenzija und des liberalen Bürgertums. In einem an den Zaren gerichteten Memorandum formulierten sie eine Reihe von Forderungen, darunter die nach lokaler Selbstverwaltung im ganzen Südkaukasus, nach vollständigen gleichen politischen und sozialen Rechten für alle Muslime im südlichen Kaukasus und die nach Verteilung von Boden an landlose Bauern. Diesem Treffen folgten am 28. August 1905 der erste Allrussische Kongress der Muslime sowie 1906 die Gründung der ersten politischen Partei der Muslime in Russland unter dem Namen Ittifaq al-Muslimin (»Bündnis der Muslime«). Zu ihren Forderungen gehörten die Einführung einer konstitutionellen Monarchie sowie die Gleichstellung der Religionen. Unter ihren Gründern und führenden Politikern befand sich neben Wolga- und Krimtataren auch Topςubaşov. In der ersten russischen Staatsduma (1906) wurde er Vorsitzender der muslimischen Fraktion.
Das zunehmende politische Selbstbewusstsein der südkaukasischen Muslime ging Bemühungen einher, die islamische Religion, d. h. ihre privaten und gesellschaftlichen Werte, das aus ihr abgeleitete Rechtswesen und die Grundlagen der politischen Ordnung mit den Erneuerungsbestrebungen zu verbinden, die in der russischen Gesellschaft als ganzer diskutiert und politisch eingefordert wurden. Zugleich berührten sich die Bestrebungen der aserbaidschanischen Erneuerer in gewisser Weise sowohl mit den theologischen Erneuerungsbestrebungen im islamischen Raum insgesamt (
S. 87) als auch mit einer Bewegung, die vornehmlich die Muslime im ural-wolga-tatarischen und im krimtatarischen Raum erfasst hatte.
Der Dschadidismus machte sein Anliegen, die »Erneuerung«, bereits in seinem Namen kund: In ihren Anfängen in den 1870er Jahren bezog sich die »neue Methode« (al-usul al-dschadida) zunächst nur auf die phonetische Vermittlung der im Wolgaraum gesprochenen türkischen Sprache; in Kasan lagen die Ursprünge der Bewegung. Die Erneuerung der Sprache unter den turksprachigen Muslimen in Russland sollte die Voraussetzung für eine Verbesserung der Stellung der muslimischen Völker im Reich werden. Diese ursprünglich bescheidenen Ziele weiteten sich in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer Reformbewegung aus, die eine nationalistische »tatarische« Ideologie auf der Grundlage des Islams als identitätsstiftendem Merkmal anbot. Anders als im Falle der großen zeitgenössischen arabischen Reformer ging es nicht um eine umfassende theologische Erneuerung. Das Anliegen war vielmehr, die Muslime Russlands aus ihrer Rückständigkeit und Unterlegenheit herauszuführen und sie in den Stand zu versetzen, in Wissenschaft, Technik und Kultur einen der russischen Gesellschaft ebenbürtigen Platz einzunehmen. Die dschadidistischen Reformer setzten auf die individuelle Urteilskraft, nicht zuletzt auch in Hinsicht auf das Verhältnis von Glauben und rationaler Beurteilung. Während der Islam auf die kulturelle Sphäre beschränkt wurde, wurden Modernität und Rationalismus zu Grundkriterien des Dschadidismus. In der Forderung nach der Überwindung der sozialen Kluft und der Gleichstellung der Geschlechter zeigte er zugleich auch eine starke gesellschaftspolitische Komponente.
Auch in seiner Blütezeit freilich blieb der Dschadidismus das Anliegen einer nur schmalen Elite unter den Turkvölkern. Unter seinen Aktivisten ist der Krimtatar Ismail Bej Gasprinski (auch: Ismail Gaspıralı, 1851–1914) aufgrund seiner umfassenden sowohl theoretischen als auch praktisch-politischen und pädagogischen Tätigkeiten der bemerkenswerteste. Sie lagen zunächst auf dem Gebiet der Sprache: Da er Muslime und Turkvölker Russlands gleichsetzte, schwebte ihm als Mittel zur Verständigung eine neuentwickelte gemeinsame Turksprache vor. Eine solche würde der Schlüssel zur Schaffung eines modernen Bildungswesens nach europäischem Vorbild werden. Dieses wiederum wäre eine feste Grundlage, auf welcher innerhalb Russlands eine Emanzipation im Sinne der Gleichberechtigung der Muslime als Volk und Staatsbürger erreicht werden könne. Eine breitere Öffentlichkeit sprachen er und seine Mitstreiter über die zweisprachige Zeitschrift Tärdžeman/Perevodčik (auch Tercuman, »Der Übersetzer«) an, die er 1883 gründete und die bis 1918 erschien. Sämtliche Themen und Anliegen Gasprinskis – Emanzipation, rechtliche Gleichstellung, Schulreform und Sprachproblematik – wurden aufgegriffen und von Lesern kommentiert und kritisiert. Bis 1905 sollte der Tärdžeman die einzige Zeitung der Muslime im europäischen Russland bleiben.
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