1 ...8 9 10 12 13 14 ...53 Im geopolitischen Denken und Handeln der europäischen Mächte hatten das Mittelmeer und der Raum des Osmanischen Reichs, Persiens, des Kaukasus, Zentralasiens und Afghanistans einen hohen Stellenwert. Besondere strategische Brennpunkte waren die Meerengen von Bosporus und Dardanellen sowie der Suezkanal, der 1869 eröffnet wurde. Die Kontrolle Russlands über die türkischen Meerengen und dessen ungehinderter Zugang vom Schwarzen ins Mittelmeer würden die Machtverhältnisse im Mittelmeerraum zu Lasten Englands und Frankreichs, aber auch – mit Blick auf den Balkan – Österreichs verändern. Des Weiteren war die Kontrolle des Suezkanals für England mit Blick auf seine südasiatischen Besitzungen und fernöstlichen Handelsbeziehungen von essentieller Bedeutung. Der Erwerb Zyperns durch England im Jahr 1878 machte die Insel zu dessen militärischem Vorposten am Rande des Osmanischen Reichs. Eine von England dominierte Landbrücke zwischen dem Mittelmeer und dem indischen Subkontinent beflügelte die Phantasie der Politiker in London. Zugleich waren Persien und Afghanistan die Fortsetzung der geopolitischen Räume Zentralasiens und Nordwestindiens, in denen Russland und England im great game um Machtstellung und Territorien rivalisierten. Eifersüchtig wachten die beiden Mächte darüber, dass politischer und wirtschaftlicher Einfluss zwischen dem Mittelmeer und dem Indus-Tal nicht einseitig zum Vorteil des jeweils anderen gereichten.
Mit der Industrialisierung in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts stieg die Dringlichkeit der Suche sowohl nach Rohstoffen als auch nach Absatzmärkten für europäische industrielle Produkte. Baumwolle, Rohseide sowie andere agrarische Erzeugnisse ließen die begehrlichen Blicke vor allem Englands, Frankreichs und Italiens auf Ägypten, die Levante und Nordafrika fallen. Vor diesem Hintergrund galt es, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die europäischen Produkten einen privilegierten Zugang zu den Märkten in der nah- und mittelöstlichen Nachbarschaft gewährleisten würden. Neben direkter und indirekter politischer und militärischer Einmischung war die wachsende Präsenz von Beratern in Verwaltung, Militärwesen und Wirtschaft ein Instrument, den Vorrang europäischer Interessen sicherzustellen. Außer Industrieprodukten und Handelswaren boten sich die Herrscher im Raum des Osmanischen Reichs auch als »Partner« für lukrative Banken- und Kapitalgeschäfte an. Damit aber war diesen eine Falle gestellt: Denn zunehmend gerieten sie in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit, mit der eine wachsende finanzielle Verschuldung einherging. Ein Weg war beschritten, an dessen Ende die Kontrolle des gesamten Finanzwesens der Regierungen durch europäische Hauptstädte stehen sollte. Im Falle Algeriens im 19. und im 20. Jahrhundert sowie Libyens nach dem Ersten Weltkrieg wurden ganze Staaten siedlerkolonialistisch vereinnahmt. Algerien, dessen militärische Unterwerfung 1830 begonnen hatte, wurde 1848 zum französischen Staatsgebiet und die Provinzen Oran, Algier und Constantine zu Départements erklärt. Italien ging nicht ganz so weit; 1934 aber erklärte die faschistische Regierung in Rom Libyen zur Kolonie und zur »vierten Küste« (quarta sponda)Italiens. Auch der Unterstützung der zionistischen Bewegung durch England nach dem Ersten Weltkrieg lag – neben anderen – das geopolitische Interesse zugrunde, die Landbrücke zwischen dem Mittelmeer und dem indischen Subkontinent durch einen von Großbritannien abhängigen Stützpunkt abzusichern.
Die kolonialistischen Eliten Europas haben nicht versäumt, die zunehmende Einflussnahme zwischen Atlantik und Hindukusch (um nur bei dem hier zur Diskussion stehenden Raum zu bleiben) propagandistisch zu verbrämen. Es handle sich um eine »Mission«, eine selbstauferlegte Verpflichtung, so lautete der kolonialistische Diskurs weithin unter den europäischen Kolonialmächten. Diese mission civilisatrice würde unterentwickelten, politisch und kulturell zurückgebliebenen Völkern die Errungenschaften von – europäischem – Fortschritt und Aufklärung bringen. Im Extrem müssten überkommene, diesem »Fortschritt« entgegenstehende Traditionen abgeschafft, zumindest aber »modernisiert« werden. Wenn der Aktionismus der »Mission« auch nicht ausschließlich auf den von der islamischen Kultur geprägten Raum beschränkt war, so stand dieser doch ganz besonders im Fokus. Es entstand ein politischer und kultureller Anpassungsdruck, der das Verhalten der islamischen Gesellschaften und ihrer Eliten bis in die Gegenwart bestimmt.
Das Ende des Ersten Weltkriegs schien die Chance eines Neubeginns unter dem Banner der Selbstbestimmung der Völker zu eröffnen. Aber noch immer waren die europäischen Mächte vom Dünkel ihrer Überlegenheit verblendet und nicht bereit, ihre Beziehungen zu den Völkern im Nahen und Mittleren Osten auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Wahnvorstellung von ihrer »Mission«, geleitet von ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen, ließ sie ein System von »Mandaten« errichten, über das sie die Völker in die Zivilisation zu führen vorgaben. Das hat deren Entwicklung über die folgenden Jahrzehnte blockiert. Die neuen Eliten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Führung der Staaten und Gesellschaften in den ehemaligen Mandaten und Protektoraten in Nordafrika und im Vorderen Orient übernahmen, haben deshalb Wege beschritten, die auf die Loslösung von den, ja auf die Herausforderung der Paradigmen westlicher politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung gerichtet waren. Dabei verloren sie freilich bald das Ziel der Wohlfahrt der Bürger ihrer Gesellschaften aus den Augen; sie verfingen sich in machtpolitischem Ehrgeiz sowie dem Streben nach persönlichem wirtschaftlichem Gewinn. So geriet der ganze Raum zwischen Nordafrika und Afghanistan in eine umfassende, von politischen Konflikten, weltanschaulicher Radikalität, sozialer und wirtschaftlicher Verelendung und schließlich von Flüchtlingsströmen gekennzeichnete Krise.
2.1 Fürsorgliche Vereinnahmung
Ein Graben war aufgerissen: zwischen der als überlegen propagierten europäischen Kultur, die durchaus auch nicht selten als »christlich« konnotiert wurde, auf der einen und der als rückständig herabgestuften Zivilisation, deren Unterlegenheit angeblich in einem als »mittelalterlich« abgewerteten Islam gründete, auf der anderen Seite. Europas Verantwortung würde es sein, Licht in den dunklen Teil der Menschheit zu bringen, die Last der Zivilisierung auf sich zu nehmen. »Take up the White Man’s burden …«, wie es in einem 1899 verfassten berühmten Gedicht von Rudyard Kipling (1865–1936) heißt. Und sein Zeitgenosse Evelyn Baring (1841–1917), der erste Generalkonsul in Kairo nach der Besetzung Ägyptens durch britische Truppen im Jahr 1882, verwehrte sich in seinem zweibändigen Bericht 9gegen den Vorwurf, der »Englishman« sei als Eroberer gekommen: »He came not as a conqueror, but in the familiar garb of a saviour of society.« Das Werk Lord Cromers ist der Bericht einer »Rettungsaktion«. Und so bilanziert er nach einem Vierteljahrhundert seines Wirkens in Ägypten im letzten Absatz seiner Ausführungen:
»Where once the seeds of true Western civilisation have taken root so deeply as is now the case in Egypt, no retrograde forces, however malignant they may be, will in the end be able to check germination and ultimate growth. The seeds which Ismail Pasha and his predecessors planted produced little but rank weeds. The seeds which have now been planted are those of true civilisation. They will assuredly bring forth fruit in due season. Interested antagonism, ignorance, religious prejudice, and all the forces which cluster round an archaic and corrupt social system, may do their worst. They will not succeed. We have dealt a blow to the forces of reaction in Egypt from which they can never recover, and from which, if England does her duty towards herself, towards the Egyptian people, and towards the civilised world, they will never have a chance of recovering.«
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