Bonaparte verlor keine Zeit, am Nil eine französisch geprägte Zivilisation zu schaffen. Die Gründung des Institut d’Egypte war u. a. mit dem Auftrag verbunden, den Ägyptern das Licht der Aufklärung zu bringen. Zwei französische Blätter erschienen, welche die Vorzüge des Fortschritts und die Verdienste des Fortschrittsbringers priesen – aber nur von wenigen Einheimischen gelesen und verstanden wurden. Die Feudalordnung, die Napoleon auch hier zerschlagen wollte, war im Morgenland viel fester mit dem Islam verbunden als in Frankreich das Ancien Régime mit der Kirche. Auch wenn er einen Burnus (einen nordafrikanischen Kapuzenmantel) anlegte und sich »Ali Bounabardis« nennen ließ, blieb er ein Ungläubiger und ein Fremdling, auf den der Zorn Allahs herabgefleht wurde.
Das Dokument, das der Nachwelt die Schärfe des Zusammenstoßes zwischen dem Modernisierungsfuror Napoleons und seiner Umgebung auf der einen und der tiefen Verwurzelung der Ägypter in ihrer – nicht zuletzt religiösen – Tradition verdeutlicht, ist die Chronik des Historikers und Schriftstellers Abd ar-Rahman al-Dschabarti (1754–1829). 13Napoleon war nicht nur als Vorkämpfer eines französischen Imperialismus im Mittelmeerraum oder als Mann, der seine politischen Ambitionen wissenschaftlich beflügelt wissen wollte, gekommen. Er kam ganz wesentlich auch als Propagandist der Werte der Französischen Revolution und damit einer Moderne, die den globalen Anspruch erhob, jene Ordnungen und Wertvorstellungen zu stürzen, die in der Wahrnehmung eines aufgeklärten Europäers keinen Bestand mehr hatten. Imperialistisches und propagandistisches Design gingen Hand in Hand. Nach dem Bericht al-Dschabartis hatte Napoleon bereits in einer Bekanntmachung nach der Landung in Alexandria verkündet, er sei gekommen, das Recht aus der Hand der Unrechttuer zu befreien – womit er expressis verbis die Herrschaft der Mamluken ansprach. Ausdrücklich verwahrte er sich gegen den Vorwurf, die Religion der Ägypter zerstören zu wollen; die Franzosen seien ebenfalls echte Muslime. Den Schluss dieser Bekanntmachung bildeten Befehle und Weisungen an die ägyptische Bevölkerung. Wie ein roter Faden durchzieht die tiefe Kluft zwischen der Besatzungsmacht und den Einheimischen den Bericht des Gelehrten. Auch wird immer wieder deutlich, wie wenig die Ägypter von den Segnungen der »modernen« französischen Verwaltung hielten. Die französische Kokarde als Zeichen des ihnen vonseiten des französischen Generals entgegengebrachten Respekts weisen sie zurück: »Doch unser Ansehen bei Gott und unseren Brüdern, den Muslimen, wird sinken«. Auch das Versprechen, die korrupte und verrottete osmanisch-mamlukische durch eine gute und gerechte Verwaltung zu ersetzen und für allgemeinen Wohlstand zu sorgen, konnte die Ägypter nicht versöhnlich stimmen. »Man sagte: ›Ein gesegnetes Jahr und ein glücklicher Tag, wenn die ungläubigen Hunde fortziehen!‹« Zwei Mal, im Oktober 1798 und im Juni 1800, kam es zu Erhebungen gegen die Besatzungsmacht. Dabei kam es auch zu Übergriffen gegen einheimische Christen, die der Kollaboration beschuldigt wurden. Am 14. Juni 1800 wurde General Kléber ermordet, den Napoleon als Oberkommandierenden zurückgelassen hatte. Für einen Augenblick taucht so etwas wie anerkennende Verwunderung über die Art und Weise auf, wie die Franzosen, »dieses Volk, das sich durch die Vernunft regiert und nicht von der Religion leiten lässt«, das Gerichtsverfahren durchführen: nämlich auf der Grundlage sorgfältiger Beweisaufnahme und eines differenzierten Urteils, das sogar einen der Verdächtigen freispricht.
2.3 Von Reformen zu Abhängigkeit und Einmischung
2.3.1 Der Weg in die Falle
Nach der Vertreibung der Franzosen aus Ägypten (1801) durch osmanische Truppen mit britischer Unterstützung war in Kairo ein Machtkampf ausgebrochen. Während die alten turko-tscherkessischen Seilschaften darum rangen, wieder die Macht zu übernehmen, suchte der Sultan in Konstantinopel genau das zu verhindern. Nach langem Ringen erkannte er Mehmet Ali als osmanischen Statthalter in Kairo an. Um 1770 in Kavala geboren und selbst von nicht eindeutig bestimmbarer ethnischer Zuordnung, war er Mehmet Ali der Führer des lokalen militärischen Kontingents gewesen, das dem Aufruf des Sultans zur Expedition nach Ägypten gegen die Franzosen gefolgt war. Dabei hatte es sich um etwa 300 Soldaten vornehmlich albanischer Herkunft gehandelt.
Mehmet Ali sollte zum ersten und zugleich umfassendsten Reformer auf dem Boden des Osmanischen Reichs und darüber hinaus im Vorderen Orient werden, der radikale Lehren sowohl aus der Schwäche des Reichs und seiner Provinzen als auch aus der Überlegenheit Europas zog, von welcher Ägypten soeben einen Vorgeschmack erhalten hatte. In seiner langen Regierungszeit (1805–1848) legte er die Grundlagen eines modernen, nach europäischem Vorbild aufgebauten Staates. Dennoch wurde Ägypten 1876 mit der Schaffung der Caisse de la Dette Publique unter europäische Finanzverwaltung gestellt: der erste Schritt in Richtung auf die vollständige Kontrolle des Landes, die mit der britischen Besatzung 1882 eingeleitet wurde. Wie konnte das geschehen?
Die Aufmerksamkeit Mehmet Alis galt in allererster Linie der Armee. Ohne grundsätzlich und formell die Oberhoheit des Sultans in Frage zu stellen, sollte sie die Sicherheit und außenpolitische Handlungsfähigkeit des jungen Staates, die durch eigene Interessen Ägyptens bestimmt sein würde, gewährleisten. Vor allem war sie das Instrument des Herrschers, ehrgeizige Pläne territorialer Expansion zu verwirklichen. Voraussetzungen dafür aber waren vom Staat forcierte wirtschaftliche, namentlich auch industrielle Entwicklung und technische Erneuerung. Zugleich übernahm der Staat die Kontrolle über die landwirtschaftliche Produktion und die daraus erzielten Einnahmen. Dafür freilich mussten die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden. Nach der Entmachtung der einheimischen Notabeln begann Mehmet Ali, eine auf Aushebung beruhende Armee nach europäischem Vorbild aufzustellen.
Wirtschaftliche Modernisierung und die Verwirklichung weitreichender politischer und militärischer Ziele waren nicht voneinander zu trennen. Der Aufbau von Fabriken vonseiten des Staates war zum einen an den militärischen Bedürfnissen orientiert. Darüber hinaus sollte sich die ägyptische Wirtschaft gegen wachsenden Druck insbesondere englischer Importe behaupten können. Um eine exportfähige Textilindustrie aufzubauen, bedurfte es der Zentralisierung der finanziellen Ressourcen des Staates. Sie wurde mit der Ausschaltung der mamlukischen Machtstrukturen, die wesentlich auf der Steuerpacht beruht hatten, erreicht.
Zur Durchsetzung seiner Ziele bedurfte Mehmet Ali europäischer Erkenntnisse und Produktionsmethoden. Unter den Experten, die er ins Land holte, dominierten die Franzosen. Sie standen an der Spitze der Ausbilder der Armee; man fand sie in den entstehenden Industriebetrieben und in der Verwaltung. In den Bereichen wie Technik, Medizin, Pharmazie, Veterinärmedizin, Landwirtschaft und Verwaltung entstanden Fachschulen, die von Ausländern geleitet wurden. Das Erlernen von Fremdsprachen, namentlich des Französischen, wurde besonders gefördert.
Zugleich wurden junge Ägypter zum Studium ins Ausland geschickt. Der ersten Studentenmission, die zum Studium technischer Fertigkeiten und Fachgebiete sowie der Sprache nach Frankreich geschickt wurde, war ein junger Mann beigeordnet, der in den kommenden Jahrzehnten in vielen Bereichen des Erziehungswesens und der Verwaltung eine nachhaltige Rolle spielen sollte: Rifa’a at-Tahtawi (1801–1873). Von ihm wird unten noch zu sprechen sein.
Parallel zu der Modernisierung im Inneren verfolgte der Herrscher in Kairo eine Außenpolitik, die imperialistische Züge trug. Sie hatte drei Stoßrichtungen: die Erschließung von Märkten, von Rohstoffquellen sowie die Kontrolle von Handelswegen. Mit dem Sieg über die Wahhabiten auf der Arabischen Halbinsel, der in der Zerstörung von Dir’iyya, dem Stammsitz der Familie Sa’ud gipfelte (1818), sicherte sich Mehmet Ali die Kontrolle über den Transithandel auf dem Roten Meer und dessen östliche Küste. Zwischen 1820 und 1823 wurde der Sudan erobert; damit kontrollierte er Teile des Afrikahandels. Einem Ersuchen des Sultans in Konstantinopel folgend (der de iure noch immer sein Oberherr war), entsandte er 1825 seine Armee nach Griechenland, um die osmanische Armee dort im Kampf gegen die aufständischen Griechen zu unterstützen. Auch dabei verfolgte er eigenständige Interessen: Bei einem Sieg würde er den Handel im östlichen Mittelmeer kontrollieren. Jetzt aber zogen europäische Mächte der ägyptischen Expansion eine rote Linie. Besonders in London wurden die wirtschafts- und handelspolitischen Ziele Kairos als Bedrohung eigener Wirtschaftsinteressen empfunden. Vor Navarino vernichtete im Oktober 1827 ein britisch-französisch-russischer Flottenverband die ägyptisch-türkische Flotte. Sie wurde von Ibrahim Pascha (1789–1848), einem Sohn Mehmets, kommandiert.
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