Wie definieren Sie „geistliche“ Führung? Wo unterscheidet sich die Führung einer Gemeinde von der Führung einer Firma?
Was ist das gemeinsame „Why“ Ihrer Organisation? Und wer beschützt es?
Plural – vielfältig – geteilt – auf Zeit gewählt: Was sind die Schutzfaktoren gegen den Missbrauch von Macht in Ihrer Organisation?
Literatur zur Vertiefung 
Böhlemann, Peter und Herbst, Michael, Geistlich leiten. Ein Handbuch, Göttingen 2011.
Cloud, Henry und Townsend, John, Nein sagen ohne Schuldgefühle, Holzgerlingen 2014.
Detje, Malte, Servant Leadership: Führen und Leiten in der Kirchengemeinde im 21. Jahrhundert, Göttingen 2017.
Michael Herbst, Jahrgang 1955, Professor für Praktische Theologie, war Pfarrer in Münster und Bethel (Kinderklinik), Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie in Greifswald (1996-2021). Er ist Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Er lebt mit seiner Frau in Viereth-Trunstadt bei Bamberg.
Fallstricke & Stolpersteine:
Woran Führungskräfte scheitern
Von Thomas Härry
Manteltaschen mit Gold und Staub
Seit Jahren begleitet mich ein chassidisches Sprichwort: „Wir brauchen einen Mantel mit zwei Taschen. In einer Tasche befindet sich Staub, in der anderen Gold. Ein solcher Mantel erinnert uns daran, wer wir sind.“1 Ich kenne kein anderes Statement, das die biblische Anthropologie (Lehre vom Menschen) treffender zusammenfasst: Wir alle sind Gottes Ebenbild, bewohnt von seinem Geist, heilig und unschätzbar wertvoll2. Zugleich sind wir vergänglich, begrenzt, in mancher Hinsicht schwach und sterblich3. Eine Mischung von Genialität und Gebrochenheit also. Wir sind immer beides, nie nur das eine.
Was für jeden von uns gilt, wird im Leben von Leitenden besonders deutlich sichtbar. Dieses Buch legt den Fokus auf die von „Staub“ geprägten Seiten in ihrem Leben und Wirken, auf ihre Begrenzungen und Gefährdungen. Auf das Schadenspotenzial im Blick auf sich selbst und andere. In diesem Kapitel nehmen wir es unter die Lupe und beschreiben, was ein unbewachtes Maß an Staub anzurichten vermag. Manches Gefährdungspotenzial lauert still in unserem Inneren. Es ist weder für uns selbst noch für unser Umfeld auf Anhieb erkennbar. Anderes zeigt sich deutlicher. Ob eher still präsent oder explosiv nach außen drängend: Keine Führungskraft kann auf der Langstrecke bestehen, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Führung ist in erster Linie Selbstführung4. Der Umgang mit den eigenen Gefährdungen gehört zu ihren wichtigsten Aufgaben.
Führung ist immer gefährdet
Als junger Leiter war ich voller Zuversicht, dass mit gutem Willen, einer bodenständigen Spiritualität und gutem Know-how Führung gelingen muss. Nach zehn Jahren war ich dieser Illusion endgültig beraubt. Ich war am Ende meiner physischen und seelischen Kraft. Es gab Momente, in denen ich mein nahes Ende herbeiwünschte. Ich möchte eine solche Krise nicht noch einmal erleben. Aber ich verdanke ihr entscheidende Lebenslektionen, die ich nicht mehr hergeben möchte. Sie veranlasste mich umzudenken. Es gab viele einfache und praktische Dinge, die ich mir in der Folge teils mühsam aneignete – aneignen musste, um wieder auf die Beine zu kommen. Dinge wie: Feierabend machen, mich bewegen, richtig schlafen lernen. Am schwierigsten waren innere Korrekturen: wie ich mich selbst sah. Meine Aufgabe. Meinen Gott. Wie man gut und nachhaltig führt. Der Prozess hält an. Ich werde das biblische „Metanoia“5 lebenslang durchbuchstabieren: wie ich umkehren kann aus allzu staubbedeckten Denk- und Lebensmustern. Wie ich dem Evangelium gemäßes Denken und Handeln einüben kann.
Heute weiß ich: Jede Führungsperson ist gefährdet. Jederzeit. Führung ist ein Abenteuer, ein wunderbares Vorrecht. Aber es ist kein sicherer Ort. Niemals. Dies zu verstehen, gehört zum Wichtigsten, was eine Führungskraft lernen sollte. Ich will drei Begleiterscheinungen einer Führungsaufgabe benennen, mit der eine je eigene Gefährdung verbunden ist.6
Erstens: Wer Macht hat und Autorität ausübt,
wirkt attraktiv
Macht weckt den Eros. Nach Manfred Josuttis gilt das auch bei Geistlichen: „Wer im Machtbereich des Heiligen arbeitet, der wirkt attraktiv. Die Anziehungskraft des Numinosen kann man/frau in der Gemeinde auch so erleben, dass man/frau sich dessen Repräsentanten erotisch und sexuell anzunähern versucht.“7 Eine Führungsperson muss wissen, dass manche Menschen gerade deshalb ihre Nähe suchen, weil sie Leitende grundsätzlich höher achten als andere. Einige Bewunderer sind dabei auch sexuell empfänglicher, als sie es sonst wären. Entsprechende Kräfte wirken aber auch in der Führungsperson selbst. Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger bezeichnete Macht als starkes Aphrodisiakum – ein die sexuelle Lust steigerndes Mittel8. Wer die Wirkung seines Einflusses erlebt, bekommt inneren Aufschwung, manchmal auch auf sexueller Ebene. Kommt beides zusammen – Attraktivität nach außen und verstärkter sexueller Appetit von innen –, liegen Grenzüberschreitungen vor der Nase.
Zweitens: Wer Einfluss hat,
neigt zur Selbstüberhöhung
Der Erfolg einer Führungsperson stärkt ihre Selbstvergewisserung. So weit, so gut. Bei anhaltendem und besonders großem Erfolg kann diese Bestätigung zu einer Selbstüberhöhung auswachsen. Hier beginnt die Gefährdung, denn Selbstüberhöhung blendet. Trübt den Blick für eigene Grenzen und Schwächen. Man verliert den Bezug zur Realität, hält sich selbst, seine Errungenschaften, seine Organisation für unverletzlich. Wer eine solche Perspektive nährt und darin verharrt, ist prädestiniert zu scheitern. Ein gesundes Maß an Selbstzweifel hingegen ist ein Markenzeichen guter Führungskräfte und ihrer Organisationen. Ein älterer Mann aus der Gemeinde sagte es so: „Ich traue mir selbst nicht immer über den Weg. Unter gewissen Umständen sind wir alle zu Dingen fähig, die wir in guten Zeiten mit Nachdruck ablehnen.“ Heifetz und Lensky schreiben: „Wer die Fähigkeit zum Zweifel verliert, sieht nur noch das, was seine vermeintliche Kompetenz bestätigt.“9 Wo sich Selbstüberhöhung einnistet, entstehen Wahrnehmungsverzerrungen, die wiederum zu folgenschweren Fehlentscheidungen führen.10
Drittens: Führungskräfte neigen zur Verunsicherung
Gerade für selbstkritische Führungskräfte gilt: Weil sie regelmäßig öffentlichem und innerem Erwartungsdruck ausgesetzt sind, lassen sie sich manchmal zu sehr verunsichern. Erfolgreiche Konkurrenz und Kritik verstärken diese Tendenz. Josuttis (1996) verortet bei kirchlichen Leitungspersonen eine zusätzliche Art der Verunsicherung: Sie arbeiten in einem Umfeld, das in der säkulären Öffentlichkeit oft kritisch gesehen wird.11 Ich erinnere mich an meine Zeiten als Soldat in der Schweizer Armee, wenn mich Kollegen nach meinem Beruf fragten. Manche reagierten auf meine Antwort mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis: „Was, du bist Pfarrer? Okaaaayy …“ – und wechselten das Thema. Wo das zu Distanz und blöden Witzen führte, wünschte ich mir manchmal, einen sozial anerkannteren Beruf zu haben. Fehlt Anerkennung, fühlen wir uns außen vor, nicht zugehörig, manchmal abgelehnt. Das will keiner, also geht unser Inneres in die Gegenoffensive: Wir tun alles, um geachtet zu werden, Anerkennung zu erlangen, dazuzugehören. Darin lauert wieder eine Gefährdung: der Versuch, andere zu beindrucken, ihnen zu gefallen, ihr Bild von uns aufzupolieren. Damit sind wir weit mehr mit uns selbst und unserer Wirkung beschäftigt als mit den Menschen und Organisationen, denen wir dienen sollen.
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