Gibt es Gegenmittel? Ja, es gibt sie. Die meisten von uns neigen allerdings dazu, sie für uns selbst als nicht wirklich notwendig zu erachten – auch dies ist ein Gesicht der Selbsttäuschung. Und so leben viele Führungspersonen ohne echte und verbindliche Rechenschaft, eine der wichtigsten Präventions-Maßnahmen. Rechenschaft vor Behörden, Kreisen, Kommissionen, die um die Dynamik der Täuschung wissen. Die es wagen, genau hinzuschauen und nachzuhaken. Die Warnsignale ernst nehmen und nicht vorschnell vom Tisch wischen. Das garantiert nicht alles. Ich als Leitungsperson muss es mindestens so sehr wollen wie mein Umfeld. Eine Lebensregel, die mir hilft, ist der Rat von Richard Foster. Auf die Frage, was heutige Führungspersonen am meisten brauchen, meinte er: „Stille, Einsamkeit und einen Mentor, der alles von mir weiß.“20 Auch ein Rechenschaftspartner hilft, der um meine Schwachstellen weiß und jederzeit nachfragen darf, wie es mir damit geht. Beides hilft mir, Anzeichen der Selbsttäuschung frühzeitig in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht alles gesichert, aber doch Wesentliches.
Narzissmus
Narzissmus gehört zu den stärksten Kräften, die Führungspersonen ins Scheitern treiben. Ich selber habe den Begriff lange missverstanden. Ich hielt Narzissten für Menschen mit einem übergroßen Ego. Heute weiß ich, dass das Gegenteil stimmt: Narzissten sind Menschen mit sehr geringem Selbstwert, die alles in ihrer Macht Stehende tun, um dieses Manko zu kompensieren. Narzissten fühlen sich so wenig geliebt, sind so verunsichert, dass sie alles daransetzen, um von ihrem Umfeld gemocht und bewundert zu werden. Sie tun das auf eine so fordernde Art und Weise, dass sie alle diejenigen, die ihnen die Zuneigung verweigern, grob von sich stoßen, bestrafen und verletzen.21
Chuck DeGroat, Professor für Praktische Theologie, kommt zu dem Schluss, dass eine große Anzahl von Kirchengründungen in den USA seit 1980 in einem direkten Zusammenhang steht mit dem allgemeinen Aufkommen narzisstischer Störungen. Er schreibt dazu: „Nirgendwo habe ich die Narzissmus- und Scham-Dynamik ausgeprägter beobachtet als unter Gemeindegründern.“22 Das ist ein starker Vorwurf, aber wir müssen ihn hören: Das Bedürfnis, eine eigene, eine große und erfolgreiche Gemeinde zu haben und dafür bewundert zu werden, ist für eine narzisstische Persönlichkeit ein starkes Motiv23.
Henry Nouwen hat es vor vielen Jahren ähnlich formuliert: „In der Kirche haben viele Menschen leitende Positionen inne, die unfähig sind, gesunde persönliche Beziehungen zu entwickeln, und die stattdessen den Weg der Macht und der Bevormundung eingeschlagen haben.“24 In anderen Worten: Manche „Berufung“ zum Leitungsdienst in einer Kirche erklärt sich aus dem Vorhandensein einer starken persönlichen Verunsicherung, die der Betroffene durch seine Autoritätsrolle zu kompensieren hofft. Doch aufgepasst! Das betrifft einige, längst nicht alle. Es wäre tragisch, wenn wir sämtlichen Pionierinnen und Bewegern das Etikett „Narzissmus“ anheften würden. Hinzu kommt, dass jeder und jede an mancher Stelle zu narzisstischen Verhaltensmustern neigt. Auch ich selbst. Man muss unterscheiden zwischen mancher Neigung und einem ausgeprägten Narzissmus. Klar aber scheint, dass sich Letzteres besonders oft dort findet, wo Menschen große Autorität und viel Bühnenpräsenz suchen. Die Kirche ist ein Ort, der beides bieten kann.
Wie äußern sich narzisstische Tendenzen? Im kirchlichen Bereich können folgende Vorkommnisse in diese Richtung weisen:
Eine Leitungsperson sorgt dafür, dass alle wichtigen Entscheidungen in der Organisation von ihr selbst oder einer ausgewählten kleinen Gruppe getroffen werden. Es gibt keine echten Möglichkeiten der Mitsprache.
Es gibt in einer Organisation keine Ombudsstelle; keine von der Leitung unabhängige Beschwerdestelle für Mitarbeitende oder Mitglieder, die mit einer Situation nicht klarkommen oder auf irritierende Vorkommnisse hinweisen möchten.
Eine Leitungsperson reagiert im Umgang mit manchen Personen in ihrer Organisation anhaltend ungeduldig und harsch.
Eine Leitungsperson lobt und bestätigt Mitarbeitende, die ihre Erwartungen voll und ganz erfüllen, während sie sich von anderen zurückzieht, von denen sie sich nicht bestätigt fühlt. Es kommt regelmäßig zu Kündigungen und Austritten langjähriger Gefährten der Leitungsperson.
Eine Organisation verfügt über ausgeprägte hierarchische Strukturen. Bedürfnisse und Kompetenzen von Menschen, die nicht Teil der obersten Führungsebene sind, werden stark eingeschränkt.
Leitungspersonen fühlen sich von anderen Mitarbeitenden auffällig oft ungenügend respektiert und fordern deshalb Loyalität. Sie sprechen schnell von Abweichlern, die auf ihre Plätze unterhalb der Hierarchie zu verweisen oder zu entlassen sind.
Leitungspersonen dulden keine ebenbürtigen Mitleitenden mit gleichermaßen sichtbaren Stärken und Kompetenzen. Sie umgeben sich im Bereich ihrer Haupttätigkeit gerne mit jüngeren, unerfahrenen und weniger kompetenten Mitarbeitenden, die ihre Stellung nicht gefährden.
Leitungspersonen vermitteln den Eindruck, die besten, klügsten und kompetentesten Personen innerhalb ihrer Organisation zu sein.
Leitungspersonen geben sich nahbar, charmant, verletzlich und demütig, während sie gleichzeitig bestimmte Schwächen gezielt verbergen und negieren.
Diese Liste ist nicht vollständig, macht aber deutlich, dass die Verhaltensweisen narzisstischer Personen vom ausgeprägten Bedürfnis geprägt sind, im Zentrum zu stehen.25 Was immer diese Stellung gefährdet, wehren sie geschickt ab, notfalls mit drastischen Mitteln. Letztlich wollen sie Alleinherrscher sein – alles andere bewerten sie als demütigende Niederlage. Es ist kein Zufall, dass im Alten Testament das Amt des Königs als die gefährdetste aller Führungspositionen betrachtet wird. Dass Israel Könige hat, erscheint als Zugeständnis Gottes, nicht als Ausdruck seines Willens26. Denn antike Könige sind immer Alleinherrscher, die sich so ziemlich alles erlauben, was dem Erhalt ihrer Macht dient. Deshalb stellt ihnen Gott im Alten Testament die Führungsdienste von Propheten und Priestern zur Seite. Sie haben die Aufgabe, das Amt des Königs zu beschränken und überall dort ein mahnendes Gegenüber zu sein, wo er seine Kompetenzen überschreitet.27 Es muss möglich sein, Leitenden zu widersprechen. Das biblische Führungsbild stellt dies sicher. Es gibt uns wichtige Hinweise darauf, was Narzissmus eindämmen hilft: verteilte Verantwortung, keine einsamen Spitzenplätze, möglichst flache Hierarchien.28
Steht es wirklich so schlimm?
Nach der Lektüre dieses Kapitels könnten Sie entmutigt sein und sich fragen: Will ich denn weiterhin führen, wenn der Risiken und Nebenwirkungen so viele sind? Habe ich überhaupt die Chance, all diesen Fallen zu entkommen? Chancen gibt es viele, Garantien keine. Würden Sie allerdings deshalb nicht (mehr) leiten wollen, dann wäre dies das Gegenteil dessen, was ich mit diesem Text beabsichtige. Erinnern Sie sich: Wir alle tragen Gold und Staub mit uns. In diesem Text ging es einmal um Risiken, die mit dem staubigen Anteil unserer Existenz verknüpft sind. Mit großer Begeisterung können (und müssen!) wir an geeigneter Stelle auch das andere tun, nämlich begeistert über Gold sprechen. Über den Segen, den Gott auf Ihr und mein Leben legt. Über unsere großartigen Stärken und Chancen, die uns anvertraut sind. Über Möglichkeiten und Wege, für Gott Großes zu bewegen. Über die Langmut Gottes und die Gnade des Neuanfangs. Die meisten guten Führungsbücher haben diesen Fokus und das ist gut so. Unser Gold kommt aber gerade dort zum Glänzen, wo wir den Staub nicht ausblenden. Wo wir ihn zur rechten Zeit in den Blick nehmen und mit Gottes Hilfe dafür sorgen, dass er unser Gold nicht überlagert und verdunkelt.
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