1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Nach einer Weile erscheinen die Zahlen, die zu Beginn heruntergerasselt werden, bedeutungslos: 100 km, 200 k, 3.000 Höhenmeter, 36 Stunden Cut-off-Zeit. Alles nur Zahlen. Die Videos sind der Beweis dafür, dass es geht. Melde dich einfach an und überlege dir den Rest später.
Es ist lustig, die Gesichter der Leute zu sehen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich mich für ein 100 km Rennen angemeldet habe.
„So weit ist das ja auch nicht“, meint meine Arbeitskollegin und Laufkumpanin Kate. „Mit dem Auto!“ Sie hat recht, was mache ich da eigentlich? Aber das Video, sieh dir das Video noch einmal an. Diese Leute sehen alle ganz normal aus. Da gibt es immer mindestens einen mutigen älteren Typen, der es schafft. Wenn der das kann …
Bevor ich es mich noch versehe, ist mein Jahr mit Reisen nach Kalifornien, Italien und Südafrika verplant. Aber der Beginn meiner Reise ist etwas bescheidener, nahe meinem Heim in Devon, im Südwesten Englands, mit einem „kurzen“ 55-km-Ultra, entlang Englands unglaublich schönem und 630 Meilen langem (1.014 km) South West Coast Path. Das liegt jetzt nicht so viel über der Marathondistanz und wird ein netter gemütlicher Beginn sein.
Ich habe fast sechs Monate, um für den South Devon Ultra in Form zu kommen, doch nach zwei Monaten kämpfe ich immer noch damit, mein Training zu steigern. Aus Zeitgründen war es mir bis jetzt nicht möglich gewesen, länger als zwei Stunden am Stück zu laufen. Ich muss es irgendwie schaffen, den frühen Morgen zu nutzen – ich sehe es bei immer mehr Ultra-Läufern, denen ich auf sozialen Medien folge, dass sie frühmorgens trainieren, um Vorbereitung, Arbeit und Familienleben unter einen Hut zu bringen. Aber das ist leichter gesagt als getan. In Wirklichkeit ist es doch so, dass wenn der Wecker mitten im Winter um sechs Uhr läutet und man die eisige Kälte spürt, wenn man unter der warmen Bettdecke hervorkriecht, die Müdigkeit gleich wieder zurückkommt, den ganzen Körper durchströmt und einen wieder unter die Decke zieht … dann denkt man schnell einmal: „Ich gehe einfach etwas später. Das geht sich schon aus. Ich muss mich ja ausruhen, Schlaf ist auch wichtig. Schlafen ist etwas Schönes.“
Aber wenn der Tag dann einmal so richtig angefangen hat, ist die Zeit schnell dahin. Die Kinder müssen zur Schule gebracht werden, die Arbeit ruft auch, ich muss etwas essen, abwaschen und dann bin ich auch schon wieder müde. Gehe ich eben morgen Früh doppelt so lange laufen, sage ich mir. Dann stehe ich um fünf Uhr auf und mache einen langen Lauf. Da gehen sich locker drei Stunden aus, bevor die anderen wach sind.
Doch ich stehe nicht auf. Und so wiederholt sich das Ganze.
Natürlich gehe ich gelegentlich laufen. In einer guten Woche sogar um die 65 Kilometer. Aber das ist nicht genug, um mich nur annähernd wie ein Ultra-Läufer zu fühlen.
Und dann fordert mich mein in Edinburgh lebender Bruder zu einem 40-Kilometer-Trail-Rennen in Schottland heraus. Das wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, meine Fitness zu testen, zu probieren, ein längeres Rennen in schwierigem Gelände zu laufen. Es wäre ein guter Anfang auf dem Weg zu meinem ersten Ultra. Obwohl, Freundschaftsrennen wird es keines werden. Das ist keine Herausforderung im Sinne von ‚Lass uns doch etwas zu zusammen unternehmen und sehen wie wir abschneiden‘. Das wird mehr eine Art Rennen-bis-auf-den-Tod.
Ich bin der älteste von drei Brüdern, die altersmäßig recht nahe beieinander liegen. Es war also nie wirklich einfach, immer zu versuchen, den anderen einen Schritt voraus zu bleiben. Ich erinnere mich noch gut an den Tag im Kinderbecken des lokalen Schwimmbads, als ich fünf Jahre alt war und mein mittlerer Bruder Jiva, damals drei, zu schwimmen begann. Und so lernte auch ich in einem Cocktail gemischter und verworrener Gefühle innerhalb von fünf Minuten zu schwimmen.
Der wohl demütigendste Moment in meinem Sportlerleben war der Tag, an dem der Schwimmverein meine beiden Brüder noch vor mir in die nächsthöhere Leistungsklasse beförderte. An diesem Tag hörte ich mit dem Schwimmen auf. Und ich begann mit dem Laufen.
Beim Laufen war ich besser. Zu meinem Glück begann sich unsere geschwisterliche Rivalität über die Jahre hinweg mehr ums Laufen zu drehen. Zusammen bestritten wir unzählige hart umkämpfte Rennen. Selbst Trainingsläufe arteten am Ende oft zu einem Wettkampf aus. Vor dem Start einigen wir uns jedes Mal, dass es kein Wettrennen ist. Doch irgendwann kommt dann der Punkt, wo du genau weißt, dass einer sich nicht an die Abmachung halten und loslegen wird. Damit meine ich nicht etwa das Tempo verschärfen, weil er sich gut fühlt und schneller laufen kann, sondern loslegen , um zu ‚gewinnen‘. Vor allem Jiva ist für sein ‚Loslegen‘ bekannt, manchmal sogar gleich am Anfang, um uns damit am falschen Fuß zu erwischen.
Meine beiden Brüder, Jiva und Govinda, der jüngste, sind beide gute Läufer. Als Schüler lief Jiva auf County-Ebene und Govinda verzeichnet eine Marathonbestzeit von 3 Std 12 Min. Doch ich war ihnen immer etwas überlegen. Naja, fast immer. Die Gelegenheiten, bei denen sie mich besiegten, fanden Eingang in unsere Familienannalen. Da war zum Beispiel dieser eine Tag im Jahre 1997. Erst überholte mich Jiva. Dann zog Govinda an uns beiden vorbei. Gut, es war nur ein sonntäglicher Freundschaftslauf, doch es war das erste Mal überhaupt, dass ich von beiden besiegt wurde. Zwanzig Jahre später wird diese Geschichte immer noch regelmäßig bei Familientreffen aufgewärmt.
Wenn mir Govinda also wieder einen Fehdehandschuh hinwirft – ein Rennen namens Great Wilderness Challenge in den schottischen Highlands – weiß ich, dass das kein Spaziergang wird. Erst vor kurzem hatte er aus Spaß damit begonnen, an den Wochenenden durch die Berge zu laufen, also wusste ich, dass er sich gute Chancen ausrechnete. Alle meine vergangenen Rennsiege hatte ich auf dem harten, ebenen Asphalt der Straße gewonnen. Dieses Rennen – Trailrunning in den Hügeln – ist noch immer nicht das Meine. Doch irgendwo muss ich ja einmal anfangen, wenn ich ein Ultra-Läufer werden will, und ein Rennen gegen meine Brüder ist der perfekte Anstoß, mich endlich dazu aufzurappeln.
Und auf einmal bin ich auch schon im nahe gelegenen Dartmoor Nationalpark trainieren. Meine ersten Versuche sind nicht gerade von Erfolg gekrönt. Nach zirka 10 Meilen (ca.16 km) beginne ich schon zu kämpfen und schaffe kaum mehr als Schritttempo. Meine Uhr sagt mir, dass ich mit einer Laufgeschwindigkeit unterwegs war, die ich normalerweise als langsames Joggen bezeichnen würde, doch da draußen im Moor fühlt sich alles viel anstrengender an. Es sind nicht nur die Hügel, sondern das ganze unebene, matschige Terrain, dass einen bei jedem Schritt aus dem Rhythmus bringt. So beginnt die Frustration langsam in mir hochzusteigen. Ab und an trete ich auf einen Stein oder eines meiner Beine stößt an das andere und ich stürze beinahe. Ich beginne zu fluchen. „Wessen dämliche Idee war das?“ Sobald ich endlich ein Stück Straße finde, fühle ich mich wieder wie zu Hause. Zurück dort, wo ich mich wohlfühle. Zurück beim Laufen.
Ich mag zwar Probleme haben, doch Jiva geht es noch viel schlechter. Er lebt in London und seine Arbeit, sowie sein Umzug, nehmen den Großteil seiner Zeit in Anspruch. Je mehr wir über das Rennen lesen, desto unmöglicher scheint es, sich da einfach irgendwie durchzumogeln. Einmal beendete Jiva den Edinburgh Marathon, ohne wirklich dafür trainiert zu haben. Auf der Strandpromenade in Edinburgh gegen diese sprichwörtliche Wand zu laufen, mag eine Sache sein, aber draußen in den Highlands ins Straucheln zu geraten, ist eine ganz andere. Das Rennen schreibt den Läufern vor, wasserdichte Kleidung, eine Karte und einen Kompass für Notfälle bei sich zu tragen. Das ist kein Vergnügungslauf.
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