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Zusätzlich haftet der Verkäufer nach § 31 BGB (analog)für Verschulden seiner Organeund Repräsentantenund nach § 278 BGBfür das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen.
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Die Verbindungvon (beim Unternehmenskauf gesteigerten) Aufklärungspflichtenmit den Grundsätzen der Wissenszurechnung und Wissenszusammenrechnungwird deshalb zu Recht als „ toxische[r] Haftungscocktail“ für den Verkäufer bezeichnet.611 Dieser toxische Haftungscocktail mag künftig noch gefährlicher dadurch werden, dass der BGH – an aus M&A-Sicht entlegener Stelle612 – zugunsten des Klägers, der das Wissen des Beklagten nicht nachweisen kann, dem Beklagten eine sekundäre Darlegungs- und Beweislast dafür auferlegt. Danach muss der Beklagte, nachdem der Kläger bestmöglich ein mögliches Wissen des Beklagten dargelegt hat, im Rahmen einer sekundären Darlegungs- und Beweislast konkrete Anhaltspunkte für ein Nichtwissen des Beklagten darlegen und beweisen, auch auf Grundlage eigener Ermittlungen und Untersuchungen.613 Unwohl ist dem vertragsgestaltenden und verhandelnden M&A-Juristen auch deshalb, weil ihm verlässliche Orientierungspunkte fehlen. Denn M&A-Streitigkeiten werden regelmäßig vor Schiedsgerichten ausgetragen. Ihre Entscheidungen werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Eine Klärung von Streitfragen und eine „fallinduzierte Rechtsfortbildung“,614 an denen sich der M&A-Jurist etwa im Hinblick auf eine mögliche Wissens(zusammen-)rechnung orientieren könnte, findet nicht statt.615 Nicht nur die Unsicherheitvon Streitparteien ist daher groß,616 sondern auch die der vertragsgestaltenden Juristen, die ihren Parteien wirksame Regelungen zur Wissenszurechnung im Kaufvertrag anbieten wollen.
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Dass „der Verkäufer selbst“ die offenzulegenden Informationen kennt, was ja denklogische Grundvoraussetzung einer Aufklärungspflicht ist (man kann nicht über etwas aufklären, das man selbst nicht weiß), ist im Rahmen der Aufklärungspflichten irrelevant. Denn Kenntnis ist nach der Rechtsprechung anzunehmen, wenn Wissen dem Verkäufer nach diesen Grundsätzen zuzurechnen ist.617
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Dem Verkäufer wird darüber hinaus, wie gesehen, nicht „bloß“ aus normativen Gründen Wissen zugerechnet. Der BGH fingiert vielmehr das voluntative Vorsatzelement, dass nämlich der Verkäufer auch mit der Möglichkeit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass sein Vertragspartner den „Fehler“ nicht kennt und bei Offenbarung den Vertrag nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt abgeschlossen hätte.618
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Im Rahmen deliktischer Ansprüchenach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 263 StGB oder § 826 BGB findet eine solche Wissenszu(sammen-)rechnungrichtigerweise nichtstatt.619 Denn die Grundsätze der Wissenszu(sammen-)rechnung können weder den subjektiven Tatbestand des § 263 StGB noch die für § 826 BGB erforderliche Sittenwidrigkeit ersetzen.620 Regelmäßig dürften, neben einer Haftung nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen, allerdings auch die Voraussetzungen einer Arglistanfechtung nach § 123 Abs. 1 Var. 1 BGB vorliegen.621
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Nach der von der Rechtsprechung vertretenen „Organtheorie“622 muss sich eine juristische Person das Wissenihrer vertretungsberechtigten Organmitgliederzurechnen lassen, auch wenn das betreffende Organmitglied an dem fraglichen Rechtsgeschäft nicht mitgewirkt hat.623 Dies gilt selbst dann, wenn es von dem Rechtsgeschäft nichts gewusst hat.624
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Sie muss sich zudem das Wissen ihrer Wissensvertreterzurechnen lassen. Wissensvertreterist jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als Repräsentantdes Verkäufers bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen bzw. weiterzuleiten.625 Dies dürften regelmäßig die Mitglieder des Verhandlungsteamsdes Verkäufers sein.626 Darüber hinaus dürften regelmäßig aber auch Mitglieder des Managements auf der Ebene unterhalb der Geschäftsleitungund Mitarbeiter in zentralen Führungspositionendarunter fallen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie (wenn auch nur punktuell627) als Informationslieferant in die Verhandlungen eingebunden sind.628 Regelmäßig nichtals Wissensvertreter dürften Sachbearbeiteroder Hilfspersonenin den entsprechenden Abteilungen angesehen werden. In Abhängigkeit davon, ob sie nach der Geschäftsorganisation eigenverantwortlich im Rechtsverkehr einen bestimmten Aufgabenbereich wahrnehmen, dürften Mitarbeiter unterhalb der Abteilungsleitung, Leiter von Unterabteilungen oder einzelnen Dezernatenregelmäßig ebenfalls als Wissensvertreter zu qualifizieren sein.629 Allerdings sind die Grenzen fließend.630 Die Beurteilung hängt stark vom Einzelfall, insbesondere der Größe und Organisationsform der Verkäufergesellschaft, ab. Unter Umständen kommt sogar eine Zurechnung externer Beraterin Betracht, wenn sie bestimmte Aspekte einer Transaktion selbstständig und eigenverantwortlich betreuen.631
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Üblicherweise aktenmäßigoder in elektronischen Dateien632 festgehaltenes Wissenwird dem Verkäufer ebenfalls seit einer Folge von BGH-Entscheidungen Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre zugerechnet.633 Das sind solche Informationen, die aufgrund ihrer Wichtigkeitund Rechtserheblichkeitgespeichert werden mussten und noch aufzubewahren sind, soweit es der Verkäufergesellschaft und deren Vertretern unter Berücksichtigung des Anlasses und dessen Bedeutung, des verstrichenen Zeitraums sowie der Schwierigkeit der Suche zumutbar ist, sich dieser Informationen zu vergewissern.634
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Nach der Rechtsprechung erfolgt auch eine Wissens zusammenrechnung in Form einer „ mosaikartigen Zusammenrechnung“ von Wissen Einzelner. Darunter wird ein Zusammenziehen des Teilwissens in verschiedenen Abteilungen oder bei verschiedenen Organen verstanden.635 Das Teilwissen hätte für sich noch keine rechtliche Relevanz, sondern zeitigt erst infolge des Zusammenrechnens Rechtsfolgen.636 Diese Zusammenrechnung von Wissen soll jedenfalls für solche Wissensträger gelten, die Verantwortung für das konkrete Geschäft haben.637 Die Rechtsprechung geht allerdings darüber hinaus und wendet die Grundsätze der Wissenszusammenrechnung selbst dann an, wenn der Informationsträger eine unbeteiligte Person ist.638
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Wissen von Personen der Zielgesellschaftkann der Verkäufergesellschaft beim Anteilsverkauf ( Share Deal ; beim Asset Deal wird das Wissen der Geschäftsführer oder des Vorstands der Verkäufergesellschaft, die beim Asset Deal gleichzeitig Träger des zu verkaufenden Geschäftsbereichs ist, und damit der Zielgesellschaft ohne weiteres zugerechnet639) nur dann zugerechnet werden, wenn diese Personen nach den allgemeinen Grundsätzen im konkreten Fall deren Wissensvertreter sind (Übertragung bestimmter Aufgaben zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Wahrnehmung640). Per se sind die Geschäftsführer oder Vorstände der Zielgesellschaft grundsätzlich keine Wissensvertreter des Verkäufers.641 Etwas anderes kann dann anzunehmen sein, wenn ihnen der Verkäufer im konkreten Fall im Hinblick auf den Unternehmensverkauf eine Aufgabezur selbstständigen und eigenverantwortlichen Wahrnehmung zuweist.642 Soweit es zu einer Zurechnung des Wissens von Geschäftsleitern der Zielgesellschaft kommt, wird nur deren Wissen zugerechnet. Es kommt nichtzu einer Zurechnungdes gesamtenaktenmäßig oder in elektronischen Dateien verfügbaren Wissensder gesamten Zielgesellschaft gleichsam „ in einem Schwall“.643 Keine Zurechnung beim Verkäufer, sondern umgekehrt beim Käufer hat das OLG Düsseldorf 644 in einem Fall angenommen, in dem der Geschäftsführer der Zielgesellschaft bereits nach Abschluss und noch vor Vollzug des Unternehmenskaufvertrags zum Geschäftsführer des Käufers bestellt wurde, obwohl er bei Abschluss des Unternehmenskaufvertrags noch nicht Gesellschafter war. Im Geschäftsanteilskaufvertrag war eine aufschiebend bedingte Anteilsübertragung ( One-Step-Modell 645) vereinbart worden. Bereits am Tag des Vertragsschlusses erfolgte die Bestellung zum Geschäftsführer des Käufers. Das OLG Düsseldorf nahm deshalb eine vorwirkende Loyalitätspflicht des Geschäftsführers an und rechnete sein Wissen dem Käufer zu.
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