Bei einer kleinen Verletzung bleibt die Reaktion mit einer Schwellung, Rötung und vielleicht Juckreiz lokal begrenzt. Bei einer großen Verletzung oder Erkrankung und schwerer Allergie können wir die Auswirkungen von Histamin systemisch merken:
Die Abwehr läuft auf Hochtouren, das Immunsystem kämpft – ganzkörperlich.
Problematisch ist es einerseits, wenn eine Abwehrreaktion unkontrolliert weiterläuft, auch wenn der Feind schon lange in die Flucht geschlagen ist, andererseits wenn die Alarmglocke zu früh angeht und dann mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. Beides ist der Fall bei chronischen Mastzellaktivierungen. Histamin und andere Botenstoffe werden dann oft in Schüben ins Blut abgegeben und können vielfältige Symptome verursachen. Die häufigste und sicherlich auch bekannteste Form der Mastzellaktivierung ist die Allergie.
Allergien, Pseudoallergien und Parasitosen
Allergien sind Fehlreaktionen des Immunsystems gegen eigentlich ungefährliche Substanzen. Blüten, Tierhaare und Nahrungsmittel werden vom Immunsystem falsch bewertet. Dies führt zu einer Antikörperreaktion insbesondere vom Typ Immunglobulin-E (IgE). Diese Antikörper besetzen die Rezeptoren von Mastzellen sowie von basophilen Granulozyten und sorgen so für eine Ausschüttung von Histamin und anderen Mediatoren.
Aber diese Aufgabe war eigentlich nicht ihre ursprüngliche, sondern die IgE-Antikörper haben sich diese zusätzlich angeeignet. In Millionen von Jahren der Evolution dienten die IgE-Antikörper in erster Linie der Abwehr von Parasiten, Einzellern und Würmern. Diese sind so groß, dass sie nicht wie die winzigen Bakterien oder noch kleineren Viren durch die normalen Fresszellen vernichtet werden können. Hierzu bedarf es eines anderen Verfahrens. Das läuft so ab:
Befällt zum Beispiel ein Parasit den Darm oder die Lunge, werden große Mengen an IgE-Antikörpern produziert, die sich an die Außenseite der Mastzellen heften. Diese Zellen erhalten dadurch den Befehl, Histamin und eine Vielzahl anderer Botenstoffe auszuschütten. Das Histamin wiederum bewirkt über Rezeptoren an den Zielorganen eine starke Abwehrreaktion, die wir zum Beispiel als Husten (verstärkten Auswurf aus der Lunge) und Durchfall (Kontraktion des Darms) wahrnehmen. Der Körper versucht, sich auf diese Weise der Parasiten zu entledigen. Ein wirklich ausgeklügeltes Schutzsystem, das auch nach vielen Millionen von Jahren der Evolution immer noch funktioniert. Einfach genial!
Während unsere Vorfahren sicherlich mehrfach während ihrer Lebenszeit Erfahrungen mit Parasitenbefall sammeln mussten, kommt dieser heutzutage viel seltener vor. Wir machen heute eher im Rahmen von Allergien Bekanntschaft mit durch IgE-Antikörper provoziertem Histamin, zum Beispiel bei Heuschnupfen oder einer Tierhaarallergie. Die allergischen Symptome sind jedoch die gleichen wie bei einem Parasitenbefall:
• Rötung
• Schwellung
• Juckreiz
• Schmerz
• Husten
• Durchfall
Ein Beispiel: Eine Wespe hat dich in den Fuß gestochen und ihr Gift in deine Haut injiziert. Gefahr für den Körper! Gut, dass in der Nähe der Einstichstelle Mastzellen sitzen, die aufgrund des physikalischen Reizes (die Verletzung) ihre Schleusen öffnen und ihre Gewebshormone (Botenstoffe) ausschütten. Eine der wichtigsten ist hierbei Histamin. Es ist sozusagen die Vorhut der Immunzellen und weist den Fresszellen den Weg, indem es die kleinen arteriellen Gefäße rund um die Einstichstelle weit stellt, damit die Immunzellen schnell an den Tatort gelangen.
Wenn eine Allergie besteht, dann werden durch den Wespenstich zusätzlich auch IgE-Antikörper mobilisiert, die die Mastzellenreaktion noch anstacheln. (Der Mastzelle ist es egal, warum die IgE-Antikörper andocken, sie fahren immer dasselbe Programm auf und schütten ihre Botenstoffe aus.) Die körperliche Reaktion fällt durch die deutlich vermehrte Ausschüttung von Histamin und anderen Mediatoren nun erheblich stärker aus. Diese fluten durch den ganzen Körper. Statt nur einer Schwellung, Rötung und möglicherweise Juckreiz, können damit auch Reaktionen weit entfernt vom Fuß auftreten: Schwellung der Schleimhäute in Mund und Rachen, Herzrasen, und im schlimmsten Fall droht sogar ein Kreislaufversagen.
Anaphylaxie
Wenn eine Allergie gegen einen Stoff, zum Beispiel gegen Wespengift, besteht, werden IgE-Antikörper zu Brandbeschleunigern, denn sie setzen sich auf die Rezeptoren der Mastzellen und der basophilen Granulozyten und zwingen diese so, Histamin und andere Mediatoren unaufhörlich auszuschütten. Infolgedessen kommen zur lokalen Reaktion weitere Symptome an anderen Organen, die Bronchien reagieren mit Atemnot, das Herz mit hohem Puls, die Schleimhäute mit Schwellungen im Hals und im Gesicht, das Kreislaufsystem mit Blutdruckabfall und starkem Schwitzen und so weiter. Eine solche Reaktion nennt man anaphylaktischer Schock, sie ist lebensbedrohlich und muss sofort ärztlich mit entsprechenden Notfallmedikamenten behandelt werden.
Eine Mastzellaktivierung mit IgE-Beteiligung ist also entweder eine Allergie oder eine Parasitose. Der Arzt findet in diesen Fällen bei einer Blutuntersuchung häufig erhöhte IgE-Werte. Dann sollte immer eine weitere Abklärung erfolgen und nicht sofort nur an eine Allergie gedacht werden, weil diese so häufig sind. Wenn keine Hinweise auf eine Allergie vorliegen, sollte in jedem Fall eine gründliche Parasitendiagnostik erfolgen. Zudem schließt ein niedriger IgE-Spiegel nicht grundsätzlich eine Allergie oder Parasitose aus. Gerade Nahrungs- und Kontaktallergien zeigen sich häufig nur durch Untersuchung sogenannter „spezifischer IgE“ in Kombination mit einem Pricktest der Haut. Du siehst: Nur eine gründliche, detektivisch genaue Diagnostik führt in vielen Fällung zur Klärung einer IgE-bedingten Mastzellaktivierung. Leider scheitert eine effektive Therapie schon genau an diesem Punkt. Wer chronisch an Allergien oder Parasitosen leidet, hat permanent einen erhöhten Histaminspiegel.
Die systemischen Mastzellaktivierungserkrankungen (MCAD)
«Fast alle Patienten haben bereits stapelweise Untersuchungsbefunde. Und praktisch alle wurden auch schon zum Psychiater geschickt.«
– Professor Dr. Gerhard J. Molderings, Universität Bonn –
Wenn die Mastzellen ohne eine IgE-Beteiligung reagieren, sprechen wir von einer Pseudoallergie. Diese erkennt man an niedrigen IgE-Werten bei einer Laboruntersuchung und an einem negativen Pricktest. Eine Pseudoallergie, die den gesamten Organismus betrifft, heißt Mastzellaktivierungserkrankung.
Systemische Mastzellerkrankungen (Mast Cell Activation Disease) spielen in den differentialdiagnostischen Überlegungen der meisten Therapeuten, Ärzte sowie Heilpraktiker leider immer noch keine Rolle. Wissenschaftler schätzen, dass bis zu 17 Prozent der deutschen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens an einer systemischen Mastzellerkrankung leidet. Wir beschäftigen uns hier mit den beiden häufigsten MCAD-Formen, mit den Mastozytosen und dem systemischen Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS).
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