Unterentwicklung und Armut, sonst allgemein in Mexiko, sind in Juchitán unbekannt, denn die Frauen halten eine traditionelle, regionale Ökonomie aufrecht, die weitgehend autark ist. Die Ressourcen der Gegend fließen nicht in einen ausbeuterischen, nationalen oder internationalen Markt ab, über den im ungerechten Handel billige Rohstoffe gegen teure Fertigprodukte getauscht werden. Stattdessen wird alles lokal produziert, verarbeitet, verkauft und konsumiert. Einheimische Produkte werden höher geschätzt als importierte, man ist stolz auf das Eigene: auf juchitekisches Essen, Kleidung und Musik. Es ist eine echte, selbständige Subsistenzökonomie. 42Daher konnten von außen gelenkte Firmen mit ihren Fabriken und Supermärkten in Juchitán nicht Fuß fassen. Gleichzeitig sind die Tätigkeiten der Frauen, die eben auf gutes Essen, schöne Kleidung und angenehmes Wohnen gerichtet sind, hoch geachtet, denn sie betreffen alle wichtigen Lebensvorgänge. So können die Frauen die lokale Marktwirtschaft von Juchitán, die sie wie einen großen Haushalt führen, unter Ausschluss fremder Güter steuern, denn sie haben ihre »ethnische Identität«, ihre Selbstachtung und Würde, nicht verloren. 43
Die Frauen gelten nicht als »niedere Klasse«, wie fälschlich behauptet wird, denn Klassendenken kennen diese Menschen nicht. 44Nur in anderen Teilen der Welt, wo diese Art der Subsistenzproduktion nicht mehr unabhängig ist, sondern durch kapitalistische Märkte ausgebeutet und zugleich verachtet wird, entstehen die Phänomene der sogenannten »Dritten Welt«, die in Verelendung und Hunger gipfeln. Sie sind bedingt durch die strukturell verankerte Verletzung der Würde der Frauen und der Bauern. 45In Juchitán blieb dagegen durch die lokale Ökonomie der Frauen der Wohlstand erhalten, er ist sichtbar und allgemein. Er zeigt sich deutlich in der Wohlbeleibtheit der Frauen, denn rundlich zu sein beweist reichliches und gutes Essen und ist das weibliche Schönheitsideal in dieser Stadt. 46
Eine weitere Eigenschaft der matriarchalen Ökonomie ist, dass nicht diejenige Person Ansehen gewinnt, die viel Geld besitzt, sondern diejenige, die viel für andere ausgibt. In Juchitán geschieht das reichlich bei den großen Festen, von denen es allein in dieser Stadt 35 in jedem Jahr gibt. Ihre Wurzel sind alte, agrarische Jahreszeitenfeste, überlagert von christlichen Festen im Kirchenjahr. Außerdem werden persönliche Lebensstadienfeste gefeiert, wie der fünfzehnte Geburtstag als Initiationsfest der Mädchen, Hochzeitszeremonien und Altersjubiläen.
Diese Feste oder »Velas« dauern zwei bis vier Tage und es kommen sehr viele Gäste, deren Zahl 2000 bis 3000 betragen kann. Sie alle sind von der Schirmherrin des Festes, der »Mayordoma«, eingeladen und werden von ihr verköstigt und beschenkt. Die Feste sind in erster Linie eine Angelegenheit der Frauen, die im Zentrum der Ökonomie stehen. Sie planen, organisieren und leiten das Fest, denn sie sind die Handlungsträgerinnen, während die Männer als Musikanten aufspielen und sich sonst im Hintergrund halten. Insbesondere ist der 50. oder 60. Geburtstag einer Frau ein solcher Anlass; diese Jubiläen sind Gelegenheiten für ein »Verdienstfest«, das vom ganzen Stadtviertel gefeiert wird, um die ältere Frau in ihrer Rolle als Mayordoma zu ehren. Sie ist der Mittelpunkt des Festes, und obwohl sie als Mayordoma hohe Ausgaben hat, gewinnt sie gleichzeitig großes Prestige. Darauf kommt es an: Die matriarchale Ökonomie der Leute von Juchitán ist nicht auf persönliche Bereicherung ausgerichtet, sondern auf Verteilung der Güter gemäß dem Wert der Gegenseitigkeit. In einer solchen »Prestige-Ökonomie« geht es um Festigung der sozialen Bindungen durch gemeinsames, fröhliches Konsumieren der Güter. Diese zirkulieren dabei als Geschenke und werden nicht bei einsamen Individuen, den »Reichen«, angehäuft. Eine Mayordoma ist wohlhabend und zugleich großzügig, und soziales Ansehen ist der Gegenwert, den sie mit dem lange ersparten und heiß ersehnten Verdienstfest gewinnt. Gemäß den Werten der Gegenseitigkeit und Balance wird sie zu anderen Festen eingeladen und wird dort so beschenkt, wie sie geschenkt hat. Auf diese Weise geht es weiter durchs ganze Jahr. Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist dabei unumstößlich und wer sich nicht daran hält, hat sich aus der Gemeinschaft heraus gestohlen und sich selbst ausgeschlossen. Isolierung, Vereinsamung und Lebensunsicherheit wären die Folgen.
Verdienstfeste von Frauen sind außergewöhnlich. In vielen Teilen der Welt sind Verdienstfeste Männersache, sie gewinnen dadurch Prestige, und Frauen sind die passiven Zuschauerinnen der männlichen Ehre. Nicht so in Juchitán, wo die Frauen die Subjekte und Handelnden der Feste sind und sie öffentlich auf den Straßen feiern. Dafür wird ein Straßenstück tagelang abgesperrt, so dass der Verkehr umgeleitet werden muss, ein Dach aus Palmblättern oder Stoff wird errichtet, Klappstühle werden in Reihen aufgestellt und ein Tanzplatz freigelassen, der mit Blumen und Girlanden geschmückt ist. Riesige Mengen an Essen und Trinken stehen bereit und mindestens zwei Musikkapellen treten an. Die Gäste strömen herbei, zuerst die Frauen hoch erhobenen Hauptes und in prächtig bestickten Samtblusen und Samtröcken, unter denen sich weiße Spitzenröcke bodenlang ergießen, große Blüten im Haar und eine Galerie Goldmünzen um den Hals. Sie tanzen auch zuerst, meist je zwei zusammen, sie sitzen in den vordersten Reihen, lachen laut, reißen Witze, essen viel und trinken gewaltige Mengen Bier. Die Mayordoma steht im Mittelpunkt des Festes, doch an ihrer Seite darf eine junge Frau aus ihrer Verwandtschaft, schön geschmückt, die »Festkönigin« sein. Verwandte und Nachbarinnen übernehmen als »Madrinas«, als Partnerinnen, einen Teil der Kosten und der Organisation des Festes. Tagelang tanzen die Frauen miteinander und als Höhepunkt der Feierlichkeiten findet ein Umzug auf geschmückten Wagen statt, von denen herab Früchte von schönen, jungen Frauen an die Menge verschenkt werden – ähnlich wie bei uns im Karneval.
Wirtschaftlich gesehen haben diese Feste einen nivellierenden Effekt, und das ist die Absicht bei einer Ökonomie der Gegenseitigkeit und des Ausgleichs. Die Unterschiede zwischen reicheren und ärmeren Frauen werden damit verringert, denn von einer wohlhabenden Frau wird erwartet, dass sie mehr gibt, sowohl als Schirmherrin wie als Gast. Nach den Spielregeln kommt ein Teil der Festkosten gleich zu Beginn zurück, denn alle Gäste bringen der Mayordoma Geschenke in Naturalien oder Geld mit, auch hier geordnet nach dem jeweiligen Vermögen. Es gibt für die Gegenseitigkeit kein vorgeschriebenes, abstraktes Maß – wie Geld und Preise es sind –, denn dies wäre nur äußerlich und deshalb nicht gerecht. Es geht viel eher um Ausgleich und Balance, und darauf wird genau geachtet. So ist die ganze Stadt stets mit der konkreten Anwendung der Normen dieser Gegenseitigkeit beschäftigt und das geschieht durch den Klatsch. In der Klatschrunde reden die Frauen permanent übereinander, aber auch miteinander. Wenn über eine Frau in ihrer Abwesenheit geredet wird, übernimmt eine andere jeweils ausdrücklich die Verteidigung als Fürsprecherin. Auf diese Weise werden die Normen stets verhandelt und an die Situation angepasst. Ziemlich alles wird früher oder später wieder ins Lot gebracht und dazu brauchen sie keine starren Gesetze, keine Richter und in Stein gemeißelte Strafen. 47
In diesem Sinne sind die Feste in Juchitán der Motor der Ökonomie, und sie sind ein weiteres, schönes Beispiel für eine Schenke-Ökonomie 48. Nicht der Markt ist der Gradmesser der Ökonomie – wie es bei kapitalistischen Märkten der Fall ist – sondern der lokale Markt ist eingebettet in die umfangreiche Schenke-Ökonomie. Lokale, bäuerliche Märkte, umgeben von einer Schenke-Ökonomie, sind auch für andere matriarchale Gesellschaften typisch und sie funktionieren ganz anders als kapitalistische Märkte, bei denen es um die Maximierung von Profit durch einen ungerechten Tausch geht. Wie in Juchitán spielt bei diesen lokalen Märkten nicht der Preis beim Verkaufen und Kaufen die wichtigste Rolle, sondern das stetige Erneuern guter, nachbarschaftlicher Beziehungen durch die Gespräche zwischen den Frauen auf dem Markt. So kann ein Produkt durchaus teurer eingekauft werden, aber es wurde bei einer Freundin gekauft und der Kauf hat die Freundschaft vertieft. Das ist auch ein Grund, warum fremde Supermärkte in Juchitán bisher nicht Boden gewinnen konnten, wie zum Beispiel WalMart (2005). Die Frauen von Juchitán sagten: »Man kann dort nicht sprechen, nicht miteinander reden, man kann dort nichts anderes tun als kaufen und bezahlen!« Und sie gingen nicht mehr hin. 49
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