Behrens, obwohl erst seit wenigen Wochen dabei, wollte dies nicht so einfach akzeptieren und stellte Volker zur Rede. In ihr kamen Begriffe wie unsozial, egoistisch und respektlos vor. Volker war mächtig angemacht und sagte:
„Wenn es dir bei uns nicht gefällt … wir sind bisher sehr gut ohne dich ausgekommen, du Kleinbürger.“ Dann drehte er sich von Behrens weg, nahm den Ball und ging zum Spielfeld. Die anderen Mitspieler folgten ihm. Behrens fühlte sich alleingelassen und unverstanden.
„Was ist falsch daran, darauf zu achten, dass Vereinbarungen eingehalten werden? Eine Verabredung ist eine Vereinbarung“, war Behrens’ Überzeugung.
Er erinnerte sich an Diskussionen, in denen es darum ging, ob man beim Verlassen eines Kreisverkehrs den Blinker setzen muss, wenn kein anderes Auto in Sicht ist sowie um die Frage, ob es richtig sei, um Mitternacht bei Rot über die Fußgängerampel zu gehen.
Behrens setzte sich immer für die Einhaltung der geltenden Regeln und Gesetze ein, weshalb manche Diskussionsteilnehmer ihn als Spießer bezeichneten. Doch „Kleinbürger“ hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Er verließ den Sportstrand und kehrte nicht mehr zur Gruppe zurück.
Einige Monate später trat er, wieder mit dem Ziel, für sich einen Freundeskreis zu finden, in den ortsansässigen Tennisverein ein. Er hatte diesen Sport als junger Mann mit mäßigem Erfolg betrieben. Er nahm Trainerstunden, fand jedoch wegen seiner niedrigen Leistungsklasse kaum Mitglieder, die mit ihm spielten. Da es ihm auch dort nicht gelang, gesellschaftliche Kontakte herzustellen, trat er noch während der laufenden Saison aus dem Verein wieder aus. Wohl auch wegen des für ihn viel zu hohen Trainerhonorars.
Um 18 Uhr wurde die Restauranttür von einem Kellner geöffnet. Thea kannte den Zeittick ihres Verlobten und würde pünktlich sein; sie war es aber nicht.
Behrens wartete nur wenige Minuten, bis er zum Handy griff. Den Text auf der Mailbox kannte er und wusste auch, dass es keine Möglichkeit gab, eine Nachricht zu hinterlassen.
Thea war wie jeden Mittwoch im Grand Sea Hotel, um, wie er lästerte, „die Schöne noch schöner zu machen“. Tatsächlich legte sie großen Wert auf ihr Äußeres und nutzte diverse Spa- und Wellness-Angebote.
„Noch warten, ihr noch zehn Minuten geben oder sich gleich auf den Weg zum Hotel machen? Sie ist mit dem Wagen unterwegs, wir könnten uns verfehlen“, waren Behrens’ Überlegungen.
Er erklärte der Rezeptionistin kurz die Situation, bat um ein Blatt Papier, worauf er eine Nachricht für Thea schrieb. Dann verließ er das Hotel-Restaurant.
Das Grand Sea Hotel, ein Fünf-Sterne-Luxus-Resort für anspruchsvolle Gäste, befand sich ebenfalls in der Ostseeallee, nur circa 400 Meter entfernt. Behrens erreichte es in wenigen Minuten.
Er fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock zum Wellness- und Saunabereich und erkundigte sich bei den Mitarbeitern nach Thea. Doch keiner von ihnen hatte sie heute schon gesehen.
Behrens schaute an der Hotelbar vorbei und fragte beim Empfangspersonal nach ihr – ohne Ergebnis. Jetzt wollte er noch in der Tiefgarage nachsehen, ob ihr Wagen dort stand. Ein Mitarbeiter begleitete ihn, aber auch hier keine Spur von Thea. Er suchte noch die umliegenden Parkplätze ab, bevor er sich eilig auf den Weg nach Hause machte.
Sein Haus befand sich in einem Neubaugebiet, gut 15 Minuten zu Fuß vom Ortszentrum entfernt. Während dieser Jahreszeit hatte er kaum direkte Nachbarn. Der Bebauungsplan erlaubte die Selbstnutzung wie auch die Ferienvermietung der Wohnungen und Häuser. Die Feriengäste waren abgereist und die Eigentümer würden frühestens zu Weihnachten zurückkehren.
Behrens konnte dem Drang der Menschen, Silvester an der oft nasskalten Ostsee zu verbringen, nichts abgewinnen. Bei eisigen Temperaturen dicht an dicht auf dem Platz vor der Seebrücke stundenlang auszuharren, bis es endlich Mitternacht war, das war nicht sein Ding. Er musste allerdings akzeptieren, dass zu dieser Zeit alle Gästebetten belegt sein würden und sich die Einwohnerzahl der kleinen Stadt vervierfacht hätte.
Als er in sein Haus zurückkehrte, war alles so, wie er es verlassen hatte. Lediglich Theas gelbe Daunenjacke war von der Garderobe genommen und ihre Schuhe fehlten.
Er versuchte ein weiteres Mal, seine Verlobte auf dem Handy zu erreichen, vergeblich.
Thea hatte zwei Freundinnen, deren Telefonnummern in seinem Handy gespeichert waren und die er nun wählte.
Liesbeth, eine Boutiquebesitzerin, gab die Auskunft, dass sie Thea schon seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Bei Silke, ihrer Friseurin, war fortlaufend besetzt.
Als er Silke eine Stunde später erreicht hatte, antwortete sie auf die Frage nach Thea: „Auch wenn ich wüsste, wo Thea steckt, würde ich es Ihnen nicht sagen, Sie Schwein“, und legte auf.
Behrens war wie vom Blitz getroffen. Diese Aussage brachte ihn kurzzeitig aus der Fassung.
Er hatte die Friseurin nie kennengelernt und was er von ihr wusste, hatte Thea ihm erzählt. Sie war alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter. In ihren Gesprächen ging es meistens um Männerbekanntschaften, deren Namen sich von Friseurtermin zu Friseurtermin änderten.
„Aber was“, grübelte Behrens, „kann Thea ihr gesagt haben, das die Friseurin dazu bringt, mich derart zu beschimpfen? Unsere Beziehung ist doch harmonisch und ohne nennenswerte Streitigkeiten.“
Er ließ dieser Frage nicht viel Zeit, sich in seinen Gedanken auszubreiten. Ihm wurde bewusst, dass dies jetzt unbedeutend war. Allein die Tatsache, dass es immer noch kein Lebenszeichen von Thea gab, sollte im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen.
„Lebenszeichen“, schoss es Behrens durch den Kopf. „Vielleicht kann sie keins geben, weil sie bewusstlos im Krankenhaus liegt?“
Eilig suchte er die Telefonnummer des Klinikums in Bad Doberan heraus und rief dort an. Die Vermittlung leitete ihn an die Notaufnahme weiter.
„Guten Abend, bitte entschuldigen Sie den späten Anruf, aber ich vermisse meine Verlobte, Frau Thea Schneider. Ich wollte nur sichergehen, dass ihr nichts zugestoßen ist“, stammelte Behrens ins Telefon.
Die Frau an der anderen Seite der Leitung kannte diese Art von Anrufen und reagierte routiniert.
„Bitte noch einmal den Namen der Vermissten und wann soll der Unfall passiert sein?“
„Der Name ist Thea Schneider und ob es ein Unfall war, weiß ich nicht. Könnten Sie bitte nachschauen, ob meine Verlobte heute eingeliefert wurde?“, bat Behrens ungeduldig.
„Bin schon dabei“, antwortete die Frau trocken. „Keine Frau Schneider hier.“
Behrens bedankte sich und legte den Hörer des Festnetzanschlusses zur Seite, wollte er doch auf seinem Handy jederzeit erreichbar sein.
„Jetzt noch einmal bei Thea anrufen und danach die Polizei, um sie als vermisst zu melden. Doch was werden die sagen?“, fragte er sich.
Das hatte er schon zig Male in Filmen gesehen, wie zum Beispiel in „Frantic“ mit Harrison Ford aus dem Jahre 1988. „Warten Sie erst einmal 24 Stunden ab, vielleicht wollte Ihre Frau nur für ein paar Stunden alleine sein oder Ähnliches. Die werden nur warme Worte für mich haben und heute gar nichts mehr unternehmen“, war sich Behrens sicher.
Er entschied sich, die Polizei erst morgen anzurufen und wollte so lange wach bleiben, wie es nur ging. Als er das letzte Mal auf die Uhr schaute, war es nach zwei, dann schlief er auf der Couch ein.
Die Vermisstenanzeige
Gegen 8 Uhr wachte er auf, musste sich kurz orientieren und betätigte dann sofort die Wahlwiederholung auf seinem Handy.
Diesmal kam nicht einmal mehr die Ansage des Anrufbeantworters, sondern „Der Teilnehmer ist nicht zu erreichen“.
Behrens hielt kurz inne. Er ermahnte sich, in seinem Kopf keine Spekulationen zuzulassen, sondern die Ereignisse rational zu betrachten. Aber auf diese Situation war er nicht vorbereitet. Wie sollte er auch? Hier an der Küste war sein bisheriges Leben ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Sah man von der Begegnung mit Thea ab, waren seine Tage und Wochen eher ereignislos als aufregend. Er vermied es, auffällig zu werden und schob sich selten in die erste Reihe.
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