Jetzt, während ich Jaron halte, begreife ich zu meiner Überraschung, dass ich diesen Ärger will.
Jarons Arme halten auch mich fest umschlungen. Er will in meiner Nähe sein. Und ich bin bereit. Bereit, ihn in mein Leben zu lassen. Egal, wie irgendwann alles ausgeht.
Und ich begreife noch etwas: Wir haben gewonnen! Soll Titania doch vor Wut im Kreis springen. Den jungen Mann in meinen Armen lasse ich nicht mehr los. Nicht, solange auch er mich ebenfalls halten will.
-----------------------------------------------------------
Christian Handel wurde 1978 in der Schneewittchen-Stadt Lohr am Main geboren, die im sagenumwobenen Spessart liegt. Inzwischen lebt er allerdings in Berlin und ist selbst davon überrascht, wie sehr er sich als Landpflanze im Großstadtdschungel wohlfühlt. Privat wie in seinem Schreiben begeistert er sich für Stoffe über starke Frauen, märchenhafte Motive und queere Themen. Die von ihm herausgegebene Anthologie Hinter Dornenhecken und Zauberspiegeln (Drachenmond Verlag) wurde 2017 sowohl mit dem Deutschen Phantastik Preis als auch mit dem Skoutz Award ausgezeichnet. 2020 erschienen im Ueberreuter Verlag Rowan und Ash – Ein Labyrinth aus Schatten und Magie , in dem zwei schwule Prinzen im Mittelpunkt stehen. Der Roman war für den SERAPH 2021 nominiert.
Website: www.christianhandel.de
Instagram: www.instagram.com/christian.handel
Content Notes: Alkohol, Blut, Nacktheit, derbe Sprache, sexuelle Belästigung, Verletzung
Jenny Cazzola
Schon ziemlich schläfrig nimmt Jake noch einen Schluck von seinem mittlerweile lauwarm gewordenen Whiskey. Um ihn herum ist die Party in vollem Gang, aber er fühlt sich in diesem New Yorker Loft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Oder – und diese Redewendung findet er persönlich viel passender – wie ein Wolf unter Schafen.
Nein, das hier ist wirklich nicht seine crowd. Mit den Gesprächen der abgehobenen Theaterkids kann er nicht viel anfangen und mit denen der noch viel abgehobeneren Finanzhaie noch viel weniger. Ein Teil von ihm fragt sich beständig, warum er Grace überhaupt auf diese Party begleitet hat. Er könnte jetzt zu Hause auf der Couch chillen und sich Instant-Nudeln und Netflix reinziehen. Doch dann wäre Grace wahrscheinlich beleidigt. Und mit einer beleidigten Wendigo ist nicht zu spaßen.
Jake seufzt und ertränkt die Vorstellung an die Leichenbittermiene, mit der ihn seine Mitbewohnerin strafen würde, in den letzten Schlucken seines Single Malts. Zumindest die Drinks hier sind gut. Auch wenn ihm der schottische Whiskey bei Weitem nicht so gut schmeckt wie der Tennessee Whiskey, den sein Paps und sein Onkel daheim brauen. Zu Hause … Das sind unendlich weite Felder, Bonfires, Bourbon, Blues und seine Familie. Das sind Ausflüge nach Memphis und Vollmondnächte, in denen er gerannt ist, so weit seine vier Beine ihn trugen.
»Verzeihung«, unterbricht eine rauchige Stimme seinen kleinen Nostalgie-Trip. »Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
»Äh, nein. Sorry, eigentlich bin ich wohlerzogen und weiß, dass Manspreading sich nicht gehört.« Jake rutscht ein Stück nach rechts, damit die junge Frau, die plötzlich neben ihm aufgetaucht ist, sich ebenfalls auf das teure Ledersofa setzen kann, das er mehr oder weniger für sich beansprucht hat. »Evie«, stellt sie sich vor. »Und du bist?«
»Jake.« Eigentlich ist ihm so gar nicht nach Smalltalk zumute. Er will nur in Ruhe hier sitzen und trinken, bis Grace kommt und ihm sagt, dass sie für heute Abend genug von dem ganzen Zirkus hat und sie nach Hause gehen können. Aber Grace ist gerade am anderen Ende des Raumes. Sie flirtet angestrengt mit einem rothaarigen Wesen, das fast genauso groß ist wie sie, und schenkt ihrem Mitbewohner nicht die geringste Beachtung. Jake unterdrückt einen weiteren Seufzer und versucht sich wieder auf Evie zu konzentrieren, die in der Zwischenzeit munter auf ihn einquasselt. Miesepetrig sein würde weder seine Laune noch seine Situation verbessern. Da kann er seiner neuen Partybekanntschaft zumindest etwas Aufmerksamkeit schenken. Grace bemängelt sowieso immer, dass er sich auf Partys nicht genügend Mühe gibt und wie ein Trauerkloß wirkt.
»Jake«, wiederholt sie langsam. »Was machst du hier?«
»Ich trinke.«
Evie lacht. »Nein, ich meinte, was machst du hier auf dieser Party?«
»Oh. Meine Mitbewohnerin hat mich mitgeschleppt. Sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mir sämtliche übernatürlichen Wesen der Stadt vorzustellen. Nur sie selbst scheint mich plötzlich keines Blickes mehr zu würdigen. Sie ist übrigens da hinten.« Jake macht eine vage Handbewegung in Richtung der Ecke, aus der, wie aufs Stichwort, schallendes Gelächter erklingt, so laut, dass es sogar den seltsamen Jazz-Techno-Mix übertönt, der aus unsichtbaren Boxen dröhnt. Es kommt von Grace, die entweder den größten Spaß ihres Lebens hat oder auf Teufel komm raus versucht, bei ihrem Gegenüber zu landen. Bei dem Gedanken daran durchzuckt Jake ein seltsames Gefühl, das er nicht zuordnen kann. Es fühlt sich fast ein bisschen an wie Eifersucht. Aber das kann eigentlich gar nicht sein. Wahrscheinlich ist er es einfach nicht mehr gewohnt, nicht im Fokus von Graces Aufmerksamkeit zu stehen. Seit Grace und er zusammenwohnen, haben sie wirklich viel Zeit miteinander verbracht. Logisch also, dass er sich jetzt ohne die großgewachsene, wunderschöne und temperamentvolle Wendigo etwas verloren fühlt. Aber Jake will auch nicht klammern. Also tut er sein Bestes, um Grace aus seinen Gedanken zu streichen und wünscht sich stattdessen noch einen Whiskey.
»Dein Wunsch ist mir Befehl!«, hört er auf einmal eine unbekannte Stimme und ein weiteres volles Glas materialisiert sich in seiner Hand. Misstrauisch kostet Jake einen Schluck.
»Das ist ziemlich cool, oder?«, fragt Evie. »Unser Gastgeber muss ein Dschinn sein. Aber soweit ich weiß, hat ihn heute Abend noch niemand zu Gesicht gekriegt. Hey Gastgeber, kann ich einen Martini haben?« Der Cocktail taucht in ihrer Hand auf und Evie leert ihn sofort in einem Zug.
»Ah, das habe ich wirklich gebraucht … Wo waren wir gerade? Ach ja, übernatürliche Wesen. Da kann ich ja froh sein, dass du mich getroffen hast, oder so ähnlich. Ich bin nämlich auch eines. Eine Sukkuba, Dämon der Liebe, der Leidenschaft und blablabla.« Sie schneidet eine ironische Grimasse. »Und du bist?«
Jake beißt schon mal die Zähne zusammen, denn er weiß ganz genau, was jetzt kommt. Und er hasst es. Zutiefst.
»Ich bin ein Shifter. Ein Wolfswandler, um genau zu sein.«
Evies Augen werden groß und rund und sie lacht abermals auf, als sie zwei und zwei zusammenzählt. »Oh, du meinst so wie die in Twilight ? Dann ist Jake bestimmt auch die Kurzform für Jacob, oder?« Sie rutscht etwas näher an ihn heran und legt ihm vertrauensvoll die Hand aufs Knie.
Jake muss dem Drang widerstehen, ihre Hand abzuschütteln. Er hat es nicht so mit Körperkontakt, außer bei Leuten, denen er wirklich vertraut. Leider ist ihm aber auch von klein auf immer eingetrichtert worden, dass es unhöflich ist, wenn man sich gegen »lieb gemeinte« Berührungen wehrt.
»Nein«, antwortet er stattdessen, »eigentlich steht es für Jacqueline.«
Evie reißt abermals die Augen auf, doch diesmal lacht sie nicht. »Oh, Verzeihung. Ich dachte … Ich meine … Ich wollte nicht …«
Читать дальше