1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 »Ich meine den jungen Mann!«
Als wären wir Spiegelbilder, reißen Titania und ich gleichzeitig die Augen auf. Wir sind beide davon überrascht, dass ich es gewagt habe, sie zu unterbrechen. Dann verfinstert sich ihr Gesicht.
Sei es drum, ich lebe seit über dreißig Jahren in Berlin, ich bin nicht mehr einer ihrer Hofschranzen. Deshalb weigere ich mich, jetzt klein beizugeben. Keinesfalls überlasse ich ihr Jaron. Oder den Ring. Also drücke ich den Rücken durch und schiebe das Kinn nach vorne.
Titania zieht sich nun doch den Motorradhelm vom Kopf und reicht ihn einem ihrer Begleiter, der inzwischen auch abgestiegen ist und neben ihr steht. Kurz frage ich mich, ob es sich bei ihm um Robin handelt, aber die Person hat das Visier nicht gehoben.
Im Licht der Neonröhren, die an der Decke des Tunnels angebracht sind, leuchtet Titanias Haarmähne wie Kupferdraht. Natürlich kann ich keine einzige graue Strähne darin entdecken. Sie ist makellos wie eine Marmorstatue, doch wie dieser fehlt ihr die lebendige Schönheit einer Sterblichen.
»Ich wusste gar nicht, dass dir der Junge gehört «, zieht sie mich schließlich auf.
»Er gehört mir auch nicht.«
Titania hebt bedauernd die Hände. »Dann wüsste ich nicht, wie ich dir helfen kann.«
Gut. Sehr gut sogar. Wenn sie nicht bereit ist, Jaron einfach so gehen zu lassen, hat sie noch keine Möglichkeit gefunden, ihn dazu zu bewegen, ihr den Ring zu überlassen. Zumindest hoffe ich das.
Also gehe ich aufs Ganze. »Er hat mir sein Herz geschenkt.«
Titania legt den Kopf in den Nacken und lacht. »Dummer Junge.«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie Jaron oder mich meint. Obwohl ich darauf vorbereitet bin, verletzt mich das scharfkantige Eis in ihrer Stimme. »Hast du ihm von uns erzählt?«
Wieder einmal bedaure ich, dass ich nicht lügen kann. »Noch nicht.«
»Dann ist doch alles in bester Ordnung.«
Titania ist bereits im Begriff, sich umzudrehen, als ich meinen letzten Trumpf ausspiele. »Ich fordere das Recht, herauszufinden, ob ich ihn halten kann.«
Titania und ihr Gefolge erstarren in ihren Bewegungen. Mein Herz beginnt schneller zu klopfen. Ich habe es tatsächlich durchgezogen. Jetzt muss ich aufpassen. Falls sie mir die falsche Frage stellt …
»Er hat dir sein Herz geschenkt und du ihm das deine?«, fragt Titania misstrauisch.
Vorsicht, Tanner , mahne ich mich selbst. »Ich habe bereits verrücktere Dinge getan.«
Wie eine Raubkatze schleicht sie auf mich zu, bis sie direkt vor mir steht. Sie streckt die Hand aus, streichelt meine Wange. Ihre Fingernägel sind scharf wie Krallen, doch ich weiche nicht zurück. »Du bist ein Inkubus.«
Als könnte ich das jemals vergessen.
»Ich habe bereits verrücktere Dinge getan«, wiederhole ich stoisch.
Die Königin lässt ihre Fingerkuppen auf meiner Wange liegen. »Als du sagtest, du willst versuchen, ihn zu halten …« Sie blickt mir direkt in die Augen.
Ich erwidere ihren Blick. »Das alte Recht«, bestätige ich. »Die Tam Lin-Prüfung.«
Titanias Lächeln wird traurig. »Du bist keine Janet, Tanner.«
»Nein«, antworte ich. »Doch es ist seit alters her Brauch, dass sich jeder an dieser Prüfung versuchen kann. Verweigert mir die Feenkönigin von England dieses Recht?«
Im Tunnel herrscht Totenstille.
Erst nach drei, vier Herzschlägen zieht Titania ihre Hand zurück. »Nein.« Sie lächelt, doch es liegt keine Wärme darin. »Natürlich nicht.«
»Gut«, antworte ich. »Dann fordere ich, noch vor Einbruch der Dämmerung die Tam Lin-Prüfung ablegen zu dürfen.«
***
»Tam Lin war ein schottischer Edelmann, an dem Titania vor vielen hundert Jahren einen Narren gefressen hatte«, erkläre ich Kara, nachdem ich sie mit dem Lamborghini aufgelesen habe. »Sie entführte ihn ins Elfenreich und hielt ihn wie ein Schoßtier.«
»Diese Angewohnheit hat mich an den Hochelfen schon immer am meisten gestört. Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen. Sprich weiter.«
»Ein Menschenmädchen verliebte sich in ihn. Janet. Tam Lin verriet ihr, wie sie ihn retten konnte: Sie wartete den Zug der Feenkönigin ab und als sie ihren Liebsten im Tross entdeckte, zog sie ihn vom Pferd und hielt ihn fest.«
»Das ist alles?« Kara zupft an den gewaltigen Schulterpolstern ihrer Jacke, die aus künstlichen schwarzen Federn bestehen. Heute ist sie der schwarze Schwan.
»Es ist nicht alles«, korrigiere ich sie, während ich mit dem Wagen auf die Warschauer Straße abbiege. »Er verwandelte sich in schneller Abfolge in die wildesten Tiere: in einen Löwen, eine Schlange, einen Keiler. Janet wusste, sie würde ihn nur erlösen, wenn sie ihn nicht losließe. Auch nicht, als er sich in eine Feuersbrunst verwandelte.«
»Eine Feuersbrunst?!«
Ich nicke grimmig. »Keine Angst: Die Flammen haben Janet nicht verbrannt. Du kennst doch Titania: Die Hälfte von dem, was sie abzieht, ist nur Show.«
Kara verdreht die Augen.
»Das wusste Janet allerdings nicht.«
Beide hängen wir dunklen Gedanken nach, während wir durch die Nacht fahren. »Wenn es dir gelingt, ihn zu halten …« Ihre Worte verklingen, weil sie den Satz nicht zu Ende führt.
»Ich weiß«, antworte ich schließlich. »Dann muss ich vor dem Grauen Rat für ihn bürgen.«
Menschen, die trotz all unserer Vorsichtsmaßnahmen hinter das Geheimnis unserer Existenz kommen, erwarten nur zwei mögliche Schicksale: das eine ist der Tod, schnell und endgültig. Das andere ist, ein Geheimnishüter zu werden. Ein Mensch, der fortan ein Teil unserer Welt ist. Das geht jedoch nur, wenn ein Feenwesen sich dazu bereit erklärt, auf diesen Menschen aufzupassen, ihn alles zu lehren, was er wissen muss. Bringt dieser Mensch dennoch unsere Existenz in Gefahr, hat er sein Leben verwirkt. Und das seines Bürgen. Die Gesetze der Anderswelt sind hart und kompromisslos. Sie haben uns über Jahrhunderte am Leben erhalten.
»Ist es ihr gelungen?«, fragt Kara plötzlich leise. »Janet, meine ich. Hat sie Tam Lin gerettet?«
Ich nicke, während ich den Lamborghini vor einem Baumarkt parke. Obwohl es mitten in der Nacht ist, quillt der große Parkplatz fast über vor Autos. »Die Königin musste Tam Lin freigeben. Aber sie war ziemlich angepisst deswegen.«
»Oh oh …«
»Ich weiß.« Niemand legt Wert darauf, den Zorn der Feenkönigin von England auf sich zu ziehen. Trotzdem plane ich, genau das heute Nacht zu tun. In einem der berühmtesten Nachtclubs der Welt.
***
Wenn man tagsüber an ihm vorbeiläuft, kommt man vermutlich nicht darauf, dass sich in dem gewaltigen quaderförmigen Betonklotz vor uns ein in bester Weise völlig verrückter Partytempel befindet. Mitten in der Nacht sieht die Sache anders aus. Die Menschenschlange, die für den Einlass ansteht, reicht vom Gebäude quer durch den kompletten Innenhof und noch ein Stück die Straße entlang. Einige Typen schieben mit Getränkedosen befüllte Einkaufswagen an ihr vorbei und verkaufen Bier und Cola. Wer heute Nacht tanzen will, muss mit mehreren Stunden Anstehzeit rechnen. Es sei denn, man ist ein Nachtwandler und kennt bestimmte Leute – und Zaubersprüche.
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