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Der allseits beklagte Mangel an steuerlicher Harmonisierungund das Übermaß an Wettbewerb haben einen allmählichen Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten in ihrer Steuerpolitik und somit über ihre steuerpolitischen Instrumente verursacht, was auf eine potenzielle Steuererosionund den Verlust an Steuereinnahmen durch den unkontrollierten Steuerwettbewerb zurückzuführen ist.
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Die OECD und auch die Europäische Kommission sehen es daher als notwendig an, die Entwicklung der nationalen Steuersysteme zu koordinieren und ein gewisses Ausmaß an steuerlicher Harmonisierung zu erzielen, und zwar insb in jenen Bereichen, in denen ein schädlicher Steuerwettbewerbnegative Auswirkungen haben könnte (indirekte Steuern, Unternehmenssteuern, Besteuerung mobiler Faktoren wie bspw Kapital, steuerliche Behandlung von gebietsfremden Personen und Gesellschaften, Energie- und Umweltsteuern, steuerliche Behandlung von Grenzgängern, etc).
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1998 hat die OECD einen Report vorgelegt, der sich mit der Bekämpfung von schädlichem Steuerwettbewerb und schädlichen Steuerpraktikenbeschäftigte (dazu Einl MA Rn 55). Zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs bzw der schädlichen Steuerpraktiken hat die OECD insgesamt 19 Empfehlungenausgesprochen. So soll bspw ein unfairer Steuerwettbewerb durch die Ausnutzung bestehender DBA bekämpft werden können (Empfehlungen 10 ff). Zentral sind ferner die Empfehlungen, die sich auf die Beseitigung von Bankgeheimnissen und bestehenden Informationssperren beziehen (Empfehlungen 7, 8, 12, 14). Als äußerst wirkungsvoll hat sich insb die Empfehlung 16 erwiesen. Die Veröffentlichung einer Listemit Steueroasen führte dazu, dass die meisten der dort aufgeführten 35 Steueroasen eine Verpflichtungserklärung abgaben, von unfairen Steuerpraktiken nach klar aufgestelltem Zeitplan abzusehen.[29]
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Diese Bemühungen der OECD sind in jüngerer Zeit mit dem sog BEPS-Projekt neu aufgegriffen und erweitert worden. 2014 hatte die OECD erste Empfehlungen vorgelegt, um mithilfe int Koordination gegen legale Steuervermeidung in multinationalen Unternehmen vorzugehen. Damit entsprach sie dem Mandat der G20-Finanzminister und Notenbankgouverneure, die die OECD im November 2012 beauftragt hatte, Maßnahmen gegen die sog Aushöhlung der Steuerbasis und die Gewinnverlagerung (Base Erosion and Profit Shifting – BEPS) zu erarbeiten. Das BEPS-Projekt will Regierungen dabei unterstützen, ihre Steuerbasis zu schützen und mehr Sicherheit für Steuerzahler zu schaffen, dabei aber auch Dbest und Einschränkungen für grenzüberschreitende Wirtschaftsaktivitäten zu vermeiden. Die 15 konkreten Aktionspunkte sind indes für Deutschland allenfalls in Bezug auf Verrechnungspreise bei immateriellen Wirtschaftsgütern relevant. Die meisten anderen Vorgaben hat Deutschland bereits erfüllt, auch wenn die FinVerw dies an einigen Stellen abweichend beurteilt.
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Die Steuerpolitikder Europäischen Kommission hat in den vergangenen Jahren weitgehend auf Vorarbeiten der OECD zurückgegriffen. Hier ist eine deutliche Konvergenz zu beobachten, wenn es um Maßnahmen zur Vermeidung schädlichen Steuerwettbewerbs geht. Die Steuerpolitik der Europäischen Kommission ist jedoch im Wesentlichen auf das Unternehmenssteuerrechtkonzentriert und orientiert sich eng am Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Kommission erkennt damit – anders als der EuGH – die Steuerrechtssouveränität der Mitgliedsstaaten im Grundsatz an. Etwa seit dem Jahr 1990 zeigt sie sich gegenüber einer Harmonisierung im Binnenmarkt „um jeden Preis“ zurückhaltend[30] und verfolgt offenbar das Konzept eines „gesunden Steuerwettbewerbs“,[31] bei dem Wettbewerbsverzerrungen in enger Abstimmung mit den Mitgliedsstaaten punktuell abgebaut werden sollen.
II. AStG und DBA/Europarecht
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Die Grundsätze, die für das Verhältnis des nationalen dt Steuerrechts zum Abkommensrecht gelten (dazu Einl MA Rn 56 ff), werden auch durch das AStG nicht außer Kraft gesetzt. Es bedarf daher einer speziellen gesetzlichen Anordnung, wenn das Vorrangverhältnis der DBA ausnahmsweise aufgehoben werden soll. Auch im Anwendungsbereich des AStG darf die Bundesrepublik Deutschland daher einen int Sachverhalt nur besteuern, wenn ihr durch das jeweilige DBA das Besteuerungsrechtzugewiesen wird, es sei denn, es wird ausdrücklich ein treaty override (dazu Einl MA Rn 61 ff) angeordnet. Ob ein solcher verfassungsrechtlich zulässig ist, bleibt indes abzuwarten.[32]
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IRd § 1wird man daher das Besteuerungsrecht der Bundesrepublik idR an einer dem Art 9 MA vergleichbaren Vorschrift zu messen haben (dazu § 1 Rn 425und Art 9 MA Rn 8). IRd § 2ist strikt das Prinzip zu beachten, dass die Vorschrift keine Anwendung findet, wenn und soweit das jeweilige DBA dem Zuzugsstaat des StPfl das ausschließliche Besteuerungsrecht für der erweiterten beschränkten StPfl unterliegende Einkünfte zuweist (dazu § 2 Rn 18 ff).[33] Ein Beispiel für eine DBA-Regelung, die den §§ 2 ffzur Geltung verhilft, ist Art 4 Abs 4 DBA Schweiz.
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§ 6nimmt eine gewisse Sonderstellung ein. Nach hM gilt die fiktive Veräußerungsbesteuerung gewissermaßen als letzte Ausprägung der unbeschränkten StPfl vor dem Wegzug, die nicht durch das DBA eingeschränkt werde (dazu § 6 Rn 23 ff). Einen Verstoß der Regelung gegen das Abkommensrecht verneint der BFH ebenso wie deren Gemeinschaftswidrigkeit.[34]
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Für die §§ 7 ff(ein Gleiches gilt entspr für § 15und Familienstiftungen) schließlich ist es systemimmanent, dass die Rechtsfolge einer dem Art 7 Abs 1 S 1 MA vergleichbaren Vorschrift (Besteuerung nur im Ansässigkeitsstaat des Unternehmens, wenn keine Betriebsstätte im Inland) durch die Hinzurechnungsbesteuerung durchbrochen und eine Besteuerung bei den inländischen Gesellschaftern vorgenommen wird ( § 20 Abs 1).[35] Auch für ausl Betriebsstätten und PersGes wird insoweit in § 20 Abs 2 ein (ausdrücklicher) treaty override (dazu § 20 Rn 72 ff) angeordnet.
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Was das Verhältnis der Normen des AStG zum Europarecht anbelangt, so ist ohnehin festzustellen, dass nahezu jede Vorschrift des Gesetzes im Verdacht steht, mit gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben unvereinbar zu sein.[36] Für die §§ 7 ff[37] und § 15etwa hat der Gesetzgeber jüngst – unzureichend – versucht, der Gemeinschaftsrechtswidrigkeitzunächst verwaltungsseitig[38] und sodann durch § 8 Abs 2[39] bzw § 15 Abs 6 zu begegnen (dazu § 8 Rn 123 ffund § 15 Rn 142 ff). Das dt Steuerrecht steht hier vor der Herausforderung, einerseits berechtige Besteuerungsansprüche zu wahren und durchzusetzen, des Missbrauchs durch StPfl und des schädlichen Steuerwettbewerbs Herr zu werden und sich andererseits potenziell gemeinschaftsrechtswidriger Vorschriften zu entledigen. Wiederum andererseits führen Steuerverlagerungen im Gemeinschaftsgebiet zu Wettbewerbsstörungenim Gemeinsamen Markt und gefährden die Wettbewerbsneutralitätder Besteuerung in den EU-Mitgliedsstaaten.[40]
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Der ursprüngliche Ansatz der EG,[41] das Problem der Steueroasen durch die nationalen Steuerrechte der Mitgliedsstaaten regeln zu lassen, scheint daher überholt. Mittlerweile hat sich auch die Europäische Kommission des Problems des schädlichen Steuerwettbewerbs angenommen.[42] Sie setzt sich für mehr Transparenz und einen verstärkten Informationsaustausch über die Unternehmensbesteuerung ein, damit die Steuersysteme den komplizierten Unternehmensstrukturen besser gerecht werden können. Sie möchte va sicherstellen, dass die EU eine kohärente Politik gegenüber Offshore-Finanzzentrenverfolgt und die betr Länder zu Transparenz und Beteiligung an einem wirksamen Informationsaustauschauffordert.[43]
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